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# taz.de -- Eltern von Kindern mit Behinderung: Hilferuf nach Unterstützung
> In Hamburg und Schleswig-Holstein fehlen Mittel für die Betreuung von
> Kindern mit Behinderung. Also übernehmen die Eltern - und die können
> nicht mehr.
Bild: In der Sesamstraße funktioniert Inklusion. In der echten Welt fehlt das …
Neumünster taz | Die schwarz-grüne Regierung in Schleswig-Holstein hat eine
Haushaltssperre verhängt – und die Wohlfahrtsverbände schlagen Alarm: Denn
die Sperre betrifft so genannte freiwillige Leistungen, die oft an Vereine
im sozialen Bereich gehen. Betroffen sind unter anderem Menschen mit
Behinderung, deren Angehörige schon jetzt unter fehlenden Angeboten leiden.
„Wir hören jede Woche einen Hilfeschrei“, sagt Alexandra Arnold,
Geschäftsführerin der Lebenshilfe SH. „Die Einrichtungen leiden unter
Personalmangel, sie weisen Menschen mit starkem Unterstützungsbedarf
teilweise zurück.“ Leidtragende seien die Eltern, berichtet Ilka Pfänder,
Geschäftsführerin des Landesverbandes der Körper- und Mehrfachbehinderten:
„Weil es an allen Ecken und Enden [1][an Unterstützung fehlt], haben Eltern
wieder häufiger ihre Kinder zuhause und können teilweise nicht ihrer
Berufstätigkeit nachgehen.“
In Hamburg ist die Lage ähnlich, berichtet Kerrin Stumpf vom Elternverein
„Leben mit Behinderung Hamburg“: „Eltern gehen an ihre Grenze und darüber
hinaus.“
Die heutige Generation von Eltern hätte jahrelang für Inklusion gekämpft:
„Jetzt haben wir das Bundesteilhabegesetz, und die Eltern erwarten, dass
nun die Normalität losgeht. Doch sie kommen in eine Welt, in der niemand
auf ihre Kinder gewartet hat.“
## Teams in der Abwärtsspirale
Das betreffe besonders Menschen mit komplexen Behinderungen: „Sie haben
[2][keine soziale Teilhabe]“, heißt es in einem Brandbrief, den der
Elternverein an die Sozialbehörde richtete. „Jungerwachsene finden nach der
Schulzeit keine Beschäftigung und keinen Anschluss.“
Die Gründe seien vielfältig, sagt Alexandra Arnold: Gerade die kleinen
Einrichtungen, die von Betroffenen, Politik und Gesellschaft gewünscht
werden, hätten es besonders schwer. Im Flächenland Schleswig-Holstein fehle
es oft an Personal, zudem seien die Krankenstände der Fachkräfte hoch.
Das führe bei den kleinen Teams „zu einer Abwärtsspirale“, die
Einrichtungen wirtschaftlich in die Knie zwingt. Angesichts von
Schichtdienst und Löhnen, die bestenfalls minimal steigen, weil sich Kassen
und Verbände nicht auf neue Rahmenverträge einigen können, „denken viele
Fachkräfte, den Mist muss ich mir nicht antun“, sagt Arnold.
Hinzu komme das fast undurchschaubare Förderrecht, mit dem Betroffene und
Angehörige konfrontiert sind: „Die Schnittstellen sind unausgelotet, jede
Behörde macht nur ihre Sache“, sagt Stumpf.
Etwa im Fall eines jungen Mannes mit Downsyndrom, der aus dem Elternhaus in
eine kleine Wohngruppe gezogen war. Tagsüber sollte er in einer Werkstatt
arbeiten, nachmittags hilft jemand bei der Bewältigung des Alltags. „Das
Problem war nur: Er kam nicht in der Werkstatt an, weil er einfach nicht
aufstand“, berichtet Stumpf. Der junge Mann hätte morgens einen
Pflegedienst gebraucht – „aber stattdessen waren die Eltern wieder dran“.
Ilka Pfänder bestätigt diese Erfahrung: „In der Politik herrscht die
Meinung, es müsse nur ein Antrag gestellt werden, dann sei alles geregelt.“
Tatsächlich [3][lehnen die Kostenträger vieles ab], Eltern müssten klagen.
Neues Personal aus dem Hut ziehen kann die Politik zwar nicht, aber es gebe
einige Stellschrauben, sagen die Betroffenen-Vertreterinnen. So fehlen
Daten und damit eine bedarfsgerechte Planung. „Dabei fallen junge Menschen
mit Behinderung nicht vom Himmel, sie waren immerhin schon in
Förderschulen“, sagt Stumpf, die sich für Hamburg mehr barrierefreie
Wohnungen wünscht. Eine Bitte an die Politik ist auch eine [4][kostenfreie
Ausbildung zur Heilerziehungspflege] – der Beruf ist wichtig in
Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Zur Lehre noch Geld mitzubringen, sei nicht mehr zeitgemäß. Ilka Pfänder
wünscht sich Kurzzeitpflegeplätze, um Familien von Kindern mit Behinderung
eine Auszeit zu bieten. Alexandra Arnold will Fachkräfte aus anderen
Ländern schneller ins System zu bringen: „Viele haben eine Qualifikation,
müssen aber erst durch ein schwieriges Anerkennungsverfahren laufen.“ Das
Hauptproblem sei aber, dass das Sozialwesen seit Jahren auf
Wirtschaftlichkeit getrimmt und „auf Kante genäht“ seien.
## Brandbrief der Eltern
Auf den Brandbrief der Eltern in Hamburg gab es noch keine Antwort. „Wir
sind aber im Gespräch“, sagt Stumpf. Im Hamburger Senat sei das Thema
angekommen. „Und wir werden das ganze Jahr weiter Alarm schlagen, wenn es
sein muss.“
In Schleswig-Holstein hat sich die Lage durch die verhängte Haushaltssperre
um ein Vielfaches erschwert. Zum ersten Mal seit 2009 geht die Regierung
diesen Schritt, den Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) mit
Fehlbeträgen von 400 Millionen in diesem und 600 Millionen Euro im
kommenden Jahr begründet.
Das Kabinett aus CDU und Grünen werde in den nächsten Wochen beraten, wie
die Einnahmelücken geschlossen werden. Heinold, die seit 2012 in
wechselnden Regierungen im Amt ist, nannte die Herausforderungen „so groß
wie noch nie“.
Der [5][Paritätische Wohlfahrtsverband], dem auch Eltern- und
Betroffenenverbände angehören, verlangt „vor allem Planungssicherheit“. So
seien zwar Projekte auf den Weg gebracht worden, es gebe aber keine
Bewilligungsbescheide mehr. Der Verband prüfe rechtliche Schritte, um
Hilfs- und Beratungsangebote zu sichern.
Und falls es nicht klappt? Ilka Pfänder hat eine düstere Vision: „Manchmal
denke ich, es geht zurück in die 1950er Jahre – wir müssen wieder in
Großfamilien leben, damit das Kind mit Behinderung irgendwie versorgt
wird.“
28 May 2023
## LINKS
[1] /Reform-der-rechtlichen-Betreuung/!5922620
[2] /Schulbehoerde-vertroedelt-Inklusion/!5880076
[3] /Umgang-mit-Kindern-mit-Behinderung/!5925365
[4] /Schulgeld-fuer-Auszubildende/!5819359
[5] https://www.der-paritaetische.de/
## AUTOREN
Esther Geißlinger
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Hamburg
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Christian Specht
Familie
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