# taz.de -- Mangelnde Inklusion: Barriere Bayern | |
> Der Freistaat Bayern werde in zehn Jahren barrierefrei sein, verkündete | |
> Ministerpräsident Seehofer 2013. „Inkluencerin“ Evi Gerhard merkte: Alles | |
> heiße Luft. | |
Bild: Zehn Jahre nach Seehofers Versprechen: Evi Gerhard zu Besuch im Bayrische… | |
MÜNCHEN taz | Am Morgen kurz vor der Abreise bittet mich Evi Gerhard noch | |
einmal darum, ihre Haare zu kämmen. „Weißt du“, sagt sie, „bei Menschen… | |
Behinderung fällt ein verstrubbeltes Aussehen mehr ins Gewicht.“ Kurz | |
darauf macht sie sich mit ihrem „[1][Rolli]“ und einer inklusiven | |
Studiengruppe auf den Weg von Würzburg nach [2][München]. | |
Evi Gerhard ist 48 Jahre alt und sitzt im [3][Rollstuhl]. Sie trägt ein | |
knallgrünes T-Shirt, auf dem der Schriftzug „#Inkluencerin“ und ein selbst | |
designtes Logo zu sehen ist. Es besteht aus dem Piktogramm einer | |
Rollstuhlfahrerin, deren Körper den Buchstaben A bildet. Im Reifen befinden | |
sich viele bunte Punkte, die für Inklusion stehen. Ein horizontaler Strich | |
unter dem Reifen symbolisiert Barrierefreiheit. „Aktiv mit Rolli“ ist die | |
Botschaft. Auf ihrem gleichnamigen Instagram-Account nimmt Evi Gerhard | |
regelmäßig Menschen mit in ihren Alltag. Dieses Mal begleite ich sie als | |
ihre Assistentin. | |
Schon 2013 verkündete Horst Seehofer, ehemaliger Ministerpräsident Bayerns | |
(CSU), in seiner Regierungserklärung: „Bayern wird in zehn Jahren komplett | |
barrierefrei – im gesamten öffentlichen Raum, im gesamten ÖPNV“. Doch was | |
ist von dem Versprechen geblieben? Evi Gerhard will das überprüfen. | |
Schließlich stehen am 8. Oktober die bayrischen Landtagswahlen an. In | |
München wird sie Politiker:innen wie Holger Kiesel (SPD) treffen, den | |
Beauftragten der Staatsregierung für die Belange von Menschen mit | |
Behinderung sowie Abgeordnete des Landtags. | |
Am Hauptbahnhof in Würzburg begrüßt Evi Gerhard einen Servicemitarbeiter | |
der Deutschen Bahn. Barrierefrei sieht anders aus. Während der Fahrt | |
scannen wir gemeinsam die vorläufigen Wahlprogramme der unterschiedlichen | |
Parteien nach Punkten zu Barrierefreiheit und Inklusion. Die CSU möchte | |
beispielsweise „nicht alle gleichmachen, sondern jeden unterstützen, sein | |
Leben zu gestalten“. Das Leitbild dafür nennt sich „solidarische | |
Leistungsgesellschaft“. | |
## Ausbeutung von Menschen mit Behinderung | |
Als ausgebildete Bürokauffrau treibt Evi dieser Aspekt um. Nach Abschluss | |
ihrer Ausbildung konnte sie weder ein Praktikum noch einen Arbeitsplatz auf | |
dem ersten Arbeitsmarkt finden. Zwei Jahre war sie arbeitslos, über 20 | |
Jahre arbeitete sie in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung und ist | |
weiterhin voll erwerbsgemindert geblieben. Mittlerweile bezieht sie eine | |
Erwerbsminderungsrente. Gleichzeitig „darf“ sie in der Jugendbildungsstätte | |
Unterfranken in der Verwaltung mitarbeiten – für umgerechnet 2,67 Euro pro | |
Stunde. | |
Mit uns im Zug fährt Sibylle Brandt. Sie ist die Landesvorsitzende der | |
Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv Bayern der SPD und betont, dass | |
Barrierefreiheit kein Randthema sei, sondern mindestens 29 Millionen | |
Menschen in Deutschland betreffe. Barrierefreiheit gehe eben nicht nur | |
Menschen mit Behinderung etwas an, sondern genauso ältere und demenzkranke | |
Menschen sowie solche mit einer psychischen Erkrankung oder Personen mit | |
Kinderwagen. Menschen mit geringen Deutschkenntnissen könnten ebenfalls auf | |
Barrieren stoßen. | |
Als wir in München ankommen, können alle aus dem Zug aussteigen, außer Evi | |
Gerhard. Die Ausrede: Der zuständige Servicemitarbeiter der Deutschen Bahn | |
sei nicht darüber informiert worden, in welchem Wagen wir ihn erwarteten. | |
Erst nach etwa zehn Minuten kann Evi Gerhard den Zug verlassen und in | |
Richtung Landtag fahren. Dort angekommen, darf sie als einzige wie | |
selbstverständlich die Sicherheitskontrolle überspringen. „Auch das ist | |
Diskriminierung. Nur eben positive“, sagt sie. Denn geht von einer Person | |
im Rollstuhl nicht dieselbe potenzielle Gefahr aus? | |
## Bayern schneidet schlecht ab | |
Wir lauschen dem Fachgespräch „Bayern barrierefrei – wann ist endlich | |
2023?“ der SPD-Landtagsfraktion. Thomas Bannasch, Geschäftsführer der | |
Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Bayern, sagt: „Behinderung entsteht | |
erst in der Wechselwirkung zwischen den Barrieren und der Person mit einer | |
Behinderung. Ein einfaches Beispiel: Sie haben irgendwo ein paar Stufen. | |
Als Fußgänger kommt man einfach darüber, mit dem Rollstuhl nicht. Würde man | |
eine Rampe hinbauen, könnten alle rüber und die Behinderung wäre | |
kompensiert.“ | |
Bayern weise hier starke Defizite auf. Laut einer Studie der Stiftung | |
Gesundheit zu Barrierefreiheitsvorkehrungen in ambulanten Arztpraxen | |
schneidet Bayern im Bundesländervergleich im Jahre 2023 am schlechtesten | |
ab: Der Anteil der Praxen, die mindestens ein Kriterium der | |
Barrierefreiheit erfüllen, liegt in Berlin bei 57 Prozent, in Bayern bei | |
38,8 Prozent. | |
Am zweiten Tag in München fahren wir auch deswegen ins Bayerische | |
Staatsministerium für Arbeit, Familie und Soziales, um mit dem bayrischen | |
Behindertenbeauftragten Holger Kiesel zu sprechen. Die Teilnehmenden der | |
Studienfahrt überreichen ihm eine im Vorfeld erarbeitete Checkliste zur | |
Teilnahme an Wahlen. Sie umfasst barrierefreie Wahlbenachrichtigungen bis | |
hin zu barrierefreien Wahllokalen: Die Türschwellenhöhe dürfe zum Beispiel | |
maximal zwei Zentimeter betragen, damit der Zugang für alle möglich sei. | |
Holger Kiesel sagt, ihm falle auf, dass Menschen mit Behinderung in den | |
unterschiedlichsten Bereichen oft nicht mitgedacht würden. Das sei auch | |
fehlender Repräsentation geschuldet: „Ich nenne die Zahl immer wieder, weil | |
sie mich einfach erschreckt. Wir haben immer noch um die 7.000 Betriebe in | |
Bayern, die keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen. Nicht einen | |
einzigen.“ Kiesel erklärt das Verfehlen von Seehofers Ziel von vor zehn | |
Jahren damit, dass es ein zu kurzer Zeitraum für ein solch ehrgeiziges | |
Projekt sei. Außerdem scheitere es am Streit um Gelder und Zuständigkeiten. | |
## Ein Kugelschreiber ist zu wenig | |
Darüber sprechen wir später im Landtag auch mit Abgeordneten. Auf die | |
Wortmeldung eines Teilnehmers, der die fehlende Wertschätzung der | |
Leistungen in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung thematisiert, | |
antwortet Thomas Huber (CSU): Für ihn sei Wertschätzung nicht nur durch | |
Geld, sondern auch auf anderem Wege möglich. Er persönlich habe zum | |
Beispiel einen Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch liegen, der in einer | |
dieser Werkstätten gefertigt worden sei. | |
Evi Gerhard kann das nicht einfach so stehen lassen. Sie beschreibt ihre | |
Erfahrung als ausgebildete Bürokauffrau und den verwehrten Zugang zum | |
ersten Arbeitsmarkt. Von Hubers Wertschätzung für den Kugelschreiber könne | |
sie sich nichts kaufen. Huber erklärt das Verfehlen von Seehofers Ziel | |
schließlich damit, dass Barrierefreiheit eine zukunftsweisende Daueraufgabe | |
sei, mit der man niemals „fertig“ sein werde. Die Formulierung des Ziels | |
habe zu einem Bewusstseinswandel beigetragen, für den barrierefreien Ausbau | |
der Bahnhöfe und Haltepunkte der Deutschen Bahn sei aber beispielsweise der | |
Bund zuständig und nicht das Land. | |
Bayern, da sind sich Evi Gerhard und die anderen Teilnehmenden der | |
Studienfahrt auf der Rückfahrt einig, habe noch einen langen Weg vor sich, | |
um sich als barrierefrei bezeichnen zu können. Vielleicht, so die Hoffnung, | |
führe die Checkliste zu barrierefreien Wahlen ja wenigstens zu mehr | |
Teilhabe für Menschen mit Behinderung. | |
12 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Maria Disman | |
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