# taz.de -- Schulgeld für Auszubildende: Versprechen gebrochen | |
> Azubis der Heilerziehungspflege müssen in Niedersachsen Geld zahlen, wenn | |
> sie an einer freien Fachschule lernen. Das verschärft den | |
> Fachkräftemangel. | |
Bild: Das käme zum Beispiel nach der Ausbildung: Pflegefachkraft in einer WG, … | |
OSNABRÜCK taz | Eigentlich schien ja alles in Ordnung. Als Niedersachsens | |
Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) in der Landtagssitzung vom 14. | |
Dezember zum TOP 22 „Haushaltsberatungen 2022/2023 – Schwerpunkt Kultus“ | |
ans Mikrofon tritt, steht im Redemanuskript, man sichere „ein wesentliches | |
bildungspolitisches Ziel der Landesregierung, die umfassende | |
Schulgeldfreiheit, gesetzlich ab“. Aber in seiner Rede schweigt er dazu. | |
Ohnehin: Worte sind nur Worte. Denn zumindest in der Heilerziehungspflege | |
kann von Schulgeldbefreiung keine Rede sein. Dabei werden auch in diesem | |
Bereich dringend neue Arbeitskräfte gesucht: | |
Heilerziehungspfleger*innen sind für die [1][Unterstützung und | |
Betreuung] von Menschen mit Behinderung zuständig. | |
Annegret Jäkel, Schulleiterin der Fachschule Heilerziehungspflege der | |
Evangelischen Stiftung Neuerkerode, macht das zornig: „Die | |
Heilerziehungspflege wird ständig nur vertröstet, und dann vergessen, | |
anders als die Alten- und Krankenpflege“, sagt sie der taz. „Behinderte | |
haben eben keine Lobby.“ | |
Jäkel ist zugleich Sprecherin des niedersächsischen Bündnisses | |
Heilerziehungspflege, dem unter anderen Caritas und Diakonie angehören, | |
Lebenshilfe und Paritätischer Wohlfahrtsverband. Die Schulgeldfreiheit ist | |
eine seiner Kernforderungen. | |
Das Problem: Schulen in freier Trägerschaft erhalten vom Land nur 80 | |
Prozent der Finanzhilfen, die staatliche Schulen bekommen. Um das | |
auszugleichen, zumindest teilweise, müssen die freien Schulgeld erheben. | |
Rund 100 bis 150 Euro macht das pro Monat – in Neuerkerode sind es 95. Bei | |
einer dreijährigen Ausbildung summiert sich das schnell auf zwischen 3.500 | |
und 5.500 Euro. | |
17 der 38 niedersächsischen Fachschulen für Heilerziehungspflege sind in | |
freier Trägerschaft. Würde das Land ihnen Mittel in Höhe des Schulgeldes | |
zur Verfügung stellen, würde sich das pro Jahr auf zwischen 2 und 4 | |
Millionen Euro summieren, schätzt Jäkel. „Im Vergleich zum | |
Gesamt-Kultusetat des Landes von 7,5 Milliarden Euro in 2021 sind das | |
Peanuts“, sagt sie. Jeder Politiker rede von Inklusion. „Aber die | |
Ausbildung der Fachkräfte nimmt man nicht in den Blick.“ | |
Jäkel versteht das nicht. „In der Heilerziehungspflege besteht extremer | |
Fachkräftemangel“, sagt sie. „Und das ist ein toller Beruf. Aber | |
gleichzeitig geht die Schülerzahl stark zurück.“ Man müsse also alles tun, | |
die Ausbildung attraktiver zu machen. „Da sind solche Finanzierungslücken | |
sehr kontraproduktiv.“ Die Schüler seien frustriert. | |
Jäkel kämpft schon lange dafür, dass das Land die freien den staatlichen | |
Schulen finanziell so gleichstellt, dass das Schulgeld entfallen kann. „Und | |
jetzt wird es scheinbar wieder nichts“, sagt sie. In der Vorlage zum | |
Doppelhaushalt 2022/2023 fehle die Finanzhilfe erneut. „Seit Jahrzehnten | |
verspricht uns die Politik, da was zu ändern. Aber nichts passiert.“ | |
Kürzlich war Jäkel selbst im Landtag, zu Gesprächen mit Politikern der SPD. | |
Geholfen hat das nicht. | |
Aber Jäkel gibt nicht auf: „Wir werden Widerstand leisten, zusammen mit den | |
Schülern, die direkt davon betroffen sind.“ Für kommendes Jahr ist ein | |
Aktionstag geplant. | |
Jäkel wünscht sich, dass sich Auszubildende frei entscheiden können, ob sie | |
an eine staatliche oder an eine freie Schule gehen. „Da viele sich eine | |
Schule nicht leisten können, die Schulgeld verlangen muss, ist das aber | |
nicht gegeben.“ Niedersachsens Finanz- und Kultusministerium schöben sich | |
gegenseitig die Verantwortung zu: „Und am Ende will es keiner gewesen | |
sein!“ | |
Hinzu kommt: Die Finanzierungslücke widerspricht dem Koalitionsvertrag von | |
CDU und SPD von 2017. Dort steht unter „Bildung/Schulgeldfreiheit“: „Fern… | |
wollen wir sicherstellen, dass Schulgeldzahlungen einer Berufswahl nicht im | |
Wege stehen.“ | |
Mehr noch: Dadurch, dass ihre Ausbildung Geld kostet, leiden | |
Schüler*innen freier Schulen unter einer [2][finanziellen | |
Doppelbelastung], denn die Ausbildung selbst ist vergütungslos. Die | |
Evangelische Stiftung Neuerkerode bietet zwar praxisbezogene Schulplätze | |
mit Vergütung an, aber das sind „hausgemachte Ausnahmen, um Schüler nicht | |
zu verlieren“. | |
## Die Ministerien schweigen | |
Warum das Land die freien Heilerziehungspfleger*innen Mal um Mal | |
übergeht? Kultus- und Finanzministerium, von der taz um Kommentierung | |
gebeten, schweigen. | |
„Die Debatte um die Schulgeldfreiheit für die Heilerziehungspflege war | |
befremdlich“, sagt Volker Bajus, Landtagsabgeordneter und sozialpolitischer | |
Sprecher der Grünen. „Obwohl wir SPD und CDU immer wieder darauf | |
angesprochen haben, wurde das Thema ausgesessen und beharrlich dazu | |
geschwiegen. Damit brechen sie ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag.“ | |
Mit ihrer „Vogel-Strauß-Haltung“ verschärfe die Große Koalition die ohne… | |
angespannte Personalsituation in den Einrichtungen für Menschen mit | |
Behinderungen. | |
„Schrittweise“ werde „die Ausbildung in den Sozial- und Pflegeberufen“ | |
kostenlos, erklärt der SPD-Landesverband Niedersachsen auf seiner Website | |
unter dem Versprechen „Koalitionsvertrag mit roter Handschrift“. Man setze | |
„den Weg der gebührenfreien Bildung fort“. Dann kommen die freien Träger | |
der Heilerziehungspflege-Ausbildung also vielleicht im nächsten Schritt | |
dran. Oder im übernächsten. | |
16 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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