# taz.de -- Apps für Menschen mit Behinderung: Eine App fürs Leben | |
> Für alles gibt es mittlerweile eine App. Nur nicht eine, mit der Menschen | |
> mit Behinderung Alltag und Assistenzen organisieren können. | |
Bild: Nicht unsere Autorin, sondern eine andere junge Frau, die mehr vom Smartp… | |
Gestatten, Laura, 22, Arbeitgeberin. Mein Unternehmen hat derzeit acht | |
Mitarbeiter, Tendenz steigend. | |
Ich bin körperlich behindert und in allen Bereichen des Lebens auf | |
Assistenz angewiesen. Man könnte diesen Umstand als mein „Business Case“ | |
bezeichnen. Meine Mitarbeiter finden, dass ich eine gute Chefin bin. Das | |
freut mich natürlich, es würde mich aber noch viel mehr freuen, wenn ich | |
eine Software hätte, die sich um meinen mittlerweile ungefähr fünf | |
Kilogramm schweren Papierstapel auf dem Schreibtisch kümmert. | |
Der ein oder andere wird sich jetzt fragen, warum ich nicht „Pflegekräfte“ | |
sage und von einem Pflegedienst oder eine Einrichtung versorgt werde. Ich | |
möchte das kurz erläutern: Als junge Frau, die ihr gesamtes Leben noch vor | |
sich hat, möchte ich mein Tun und Handeln nicht von der | |
Personalentscheidung anderer abhängig machen. Ich möchte eine gute | |
Zusammenarbeit mit meinem Team, und das geht nur, wenn es auch | |
zwischenmenschlich passt. | |
In Zeiten von Pflegekräftemangel und der daraus resultierenden Personalnot | |
ist es den Diensten nicht mehr möglich, zwischenmenschliche Aspekte in der | |
Neuzusammensetzung von Pflegeteams zu berücksichtigen. Außerdem ist in | |
meinem Fall nach ausgiebiger Einweisung auch eine Versorgung durch | |
ungelernte Kräfte möglich. Warum soll ich also [1][den Leuten das | |
examinierte Personal wegnehmen, die es wirklich brauchen]? | |
Wenn ich meine Versorgung selbst organisiere, habe ich übrigens Freiheiten, | |
die ich bei einem Pflegedienst nicht hätte. Dazu gehört zum Beispiel die | |
freie Wahl des Ortes für den Schichtwechsel, denn ich bin ja nicht immer zu | |
Hause. Außerdem bestimme ich die Aufgaben meiner Assistenzen und bin nicht | |
an den Leistungskatalog eines Pflegedienstes gebunden. Nur deshalb gibt es | |
in meiner Wohnung noch echte, lebendige Pflanzen. Da mein Team nicht nur | |
die pflegerische Versorgung übernimmt, sondern auch die Entfernung | |
ungebetener, achtbeiniger Mitbewohner und das Gießen der Pflanzen, habe ich | |
keine „Pflegekräfte“, sondern Assistenten. | |
## Übervolle Aktenordner | |
Um Services wie diese genießen zu können, muss ich in Kauf nehmen, dass ich | |
einen gewissen Mehraufwand an Organisation, Zeit und Nerven aufbringen | |
muss. Ich übernehme als Chefin nicht nur die Fürsorgepflicht gegenüber | |
meinen Angestellten, gleichzeitig erledige ich auch die Aufgaben, um meine | |
Versorgung zu planen. Dazu gehören zum Beispiel das Erstellen des | |
Dienstplans, das Vertretungsmanagement und selbstverständlich die | |
pünktliche Überweisung des Lohns. | |
Dies sind nur wenige Beispiele meiner Aufgaben als Arbeitgeberin, insgesamt | |
beherbergt mein Ordnerschrank fünf große, teils übervolle Aktenordner mit | |
Papierkram rund um die Assistenz und das dafür notwendige persönliche | |
Budget. | |
Ganz ehrlich, ich persönlich sehe es nicht ein, wo ich gerade bin, immer | |
eine Kladde mit einem einzelnen Bogen für die Pflegedokumentation | |
dabeizuhaben. Das ist mir viel zu umständlich. Aktuell trage ich die | |
erbrachten Leistungen zu Hause nach, einfach aus der Erinnerung. Da | |
passieren natürlich hin und wieder Fehler. Tragisch ist das nicht, ein | |
korrekter Nachweis der Leistungserbringung aber auch nicht. | |
Wie kann es sein, dass sich jeder das Müsli zum Frühstück mit einer App | |
nach Hause bestellen kann, ich hingegen weder vom Start-up nebenan noch von | |
einem großen Softwarehersteller ein Tool zur Bewältigung der anfallenden | |
Verwaltungsaufgaben bekomme, das innerhalb weniger Tage und vielleicht | |
sogar zwischen Tür und Angel programmiert werden könnte? | |
## Verzichtbare Ausgaben? | |
Diese unbefriedigende Situation ist lange Zeit auch in der wirtschaftlich | |
orientierten Pflege die Regel gewesen. Seit einigen Jahren gibt es für | |
große Einrichtungen und Dienste aber entsprechende Software und Apps, um | |
die Verwaltung, die Dokumentation und die Nachweiserbringung gegenüber dem | |
Kostenträger zu vereinfachen. | |
Software für Pflegedienste oder Einrichtungen haben noch viele weitere | |
nützliche Funktionen, wie zum Beispiel die Bonussysteme fürs Einspringen in | |
anderen Pflegeteams oder vollständig automatisch generierte Abrechnungen. | |
Mit diesen Funktionen erleichtern sich Pflegedienste die Organisation | |
ungemein, für die persönliche Assistenz wären diese Funktionen jedoch | |
vollkommen unnötig. | |
Jede zusätzliche Funktion einer App kostet den Entwickler Zeit und ist | |
somit ein Kostenfaktor. Das ist auch das Hauptproblem und der Grund dafür, | |
warum bisher keine Software für die Verwaltung eines Assistenzteams | |
existiert. Das persönliche Budget, worüber meine Assistenz finanziert wird, | |
ist in meinem Fall eine Leistung der Krankenkasse und des Sozialamts. Diese | |
Kostenträger bestimmen im Endeffekt, wofür ich das erhaltene Geld ausgebe. | |
Gegenüber dem Einsatz von Verwaltungssoftware sind sie grundsätzlich | |
abgeneigt, denn aus ihrer Sicht sind das Ausgaben, auf die „verzichtet“ | |
werden kann. | |
Doch die Pflegedokumentation lässt sich ohne eine App nicht gut | |
digitalisieren. Mal abgesehen davon, dass der Nachweis der | |
Pflegedokumentation von den Kostenträgern nur stichprobenartig eingefordert | |
wird, steht aktuell in meinem Regal ein Ordner mit 406 Blättern | |
Pflegedokumentation, wovon mindestens 400 in spätestens einem Jahr dem | |
Aktenvernichter ungelesen zum Opfer fallen werden. Mit einer App auf einem | |
Smartphone wäre der Papierkram hinfällig, denn die Pflegedokumentation | |
ließe sich mit wenigen Berührungen ausfüllen und speichern. | |
## Die Frage des Datenschutzes | |
Wenn die Nachweise eingefordert werden würden, könnte man sie direkt an den | |
Träger übersenden oder ausdrucken. Den Dienstplan könnten alle Mitarbeiter | |
in seiner aktuellsten Form über ihr digitales Endgerät abrufen und die | |
Dienste als Termin in ihrem Kalender eintragen. Es könnte einen Algorithmus | |
geben, der automatisch darauf achtet, dass jeder Mitarbeiter nach seiner | |
vertraglich festgelegten Stundenanzahl arbeitet, der darauf achtet, dass am | |
Ende des Jahres jeder Urlaubstag genommen wurde, und der die Wünsche meiner | |
Mitarbeiter automatisch berücksichtigt. | |
Unendlich könnte ich auf diese Art weiter aufzählen, mir würden noch so | |
viele Funktionen einfallen, die uns Assistenznehmer*innen im persönlichen | |
Budget den [2][Alltag unglaublich erleichtern würden]. Aber wofür? Denn das | |
Problem ist nicht nur, dass die Entwicklung einer Software bedeutet, dass | |
auch Geld in die Hand genommen werden muss. Das Problem ist auch, dass | |
Start-ups damit beschäftigt sind, die einmillionste App für das | |
Fitness-Workout zu programmieren, das die Nutzer im Endeffekt nach einer | |
Woche schon wieder abbrechen. | |
Aktuell gibt es in den App-Stores einige gratis verfügbare Apps fürs | |
Dienstplanmanagement. Problematisch ist bei allen jedoch der Datenschutz, | |
denn um sich einloggen zu können, muss der Mitarbeiter mit seiner | |
E-Mail-Adresse und seinem Namen registriert werden. | |
Bei gratis verfügbaren Apps bin ich mir persönlich unsicher, was mit den | |
eingegebenen Daten am Ende wirklich passiert. Auch in der Zuverlässigkeit | |
lässt deren Performance zu wünschen übrig. Während ich eine dieser Apps | |
testete, kam es recht häufig vor, dass Mitarbeiter nicht zum Dienst | |
erschienen, weil ihnen nicht der aktuelle Plan angezeigt wurde. | |
Relativ schnell bin ich wieder zur alt bewährten Excel-Tabelle | |
zurückgekehrt. Und wie viele andere Arbeitgeber*innen mit Behinderung warte | |
ich immer noch auf ein ehrenamtliches Projekt, das die benötigte App | |
programmiert. Einfach nur weil Unternehmen lieber das nochmals | |
programmieren, was es schon gibt. | |
17 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Laura Mench | |
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