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# taz.de -- Digitalisierung des Gesundheitssystems: Ungesundes System
> Gesundheitsdaten gehören zu den sensibelsten Informationen. Die
> überstürzte Digitalisierung des Gesundheitssystems schadet daher.
Bild: Jens Spahn hat keine Sorge, dass Patientendaten im Netz zu transparent se…
Manchmal kann etwas verräterisch sein, das auf den ersten Blick gar nicht
danach aussieht. Augentropfen zum Beispiel. Augentropfen mit Pilocarpin,
einem Cholinergikum. Patient:innen bekommen diese Augentropfen, wenn der
Augeninnendruck erhöht ist. Die Augentropfen sorgen für eine Verengung der
Pupille, das Kammerwasser kann somit besser abfließen, der Druck sinkt. So
weit, so gewollt. Doch der Wirkstoff Pilocarpin senkt nicht nur den
Augeninnendruck. 2007 zeigte eine Studie: In einer bestimmten
Konzentration tritt bei Menschen mit Demenzerkrankungen und Alzheimer eher
eine Überreaktion auf den Wirkstoff auf als bei Personen einer
Kontrollgruppe.
Medizinisch gesehen ist das interessant, da so eine Früherkennung von
Patient:innen mit Alzheimer- und Demenzerkrankungen möglich sein könnte.
Aus Datenschutzsicht gesehen, ist es interessant, weil es zeigt: Selbst
eine auf den ersten Blick harmlose Information – Überreaktion auf
Augentropfen – kann weitaus mehr sensible Daten in sich bergen.
Wie sensibel Gesundheitsdaten sein können, gerät derzeit etwas aus dem
Fokus. Ursache dafür ist zum einen das Angebot. Gesundheitsapps tracken
mittlerweile alles – vom Alkoholkonsum über die fruchtbaren Tage bis hin zu
Qualität und Quantität des nächtlichen Schlafs. Und wie das bei Apps so
üblich ist: Kostenlos ist keinesfalls kostenlos. Den Preis zahlen
Nutzer:innen mit dem großflächigen Verlust ihrer Privatsphäre.
Ein Beispiel von vielen: Forscher:innen der Organisation Privacy
International untersuchten Ende vergangenen Jahres Zyklus-Apps. Das
Ergebnis: Die meisten Apps verlangten von ihren Nutzerinnen nicht nur
haufenweise persönlichste Informationen, die teilweise für die Berechnung
des Zyklus vollkommen irrelevant sind – wie etwa die Frage, ob die Nutzerin
heute Sex hatte. Sondern gaben die gesammelten Daten auch noch großzügig
weiter. Zum Beispiel an Facebook.
## Datenbank aller gesetzlich Versicherten
Jetzt kann sich fein rausfühlen, wer kein Smartphone nutzt und schon gar
keine Apps. Allerdings zu Unrecht. Denn – und das ist der zweite
bedenkliche Faktor – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn arbeitet hart
daran, die [1][bestehende Gesundheitsinfrastruktur weiter zu
digitalisieren]. Und die Versicherten haben dabei häufig keine Wahl, ob sie
bereit sind, bei Spahns Plänen mitzuspielen.
Das betrifft unter anderem den Aufbau einer Datenbank mit den
Abrechnungsdaten aller gesetzlich Versicherten. Widerspruch ist nicht
möglich. Künftig wäre damit zentral gespeichert, dass sich ein:e
Versicherte:r beispielsweise auf Überweisung des Hausarztes einer
humangenetischen Untersuchung unterzogen hat. Was nur dann geht, wenn
der:die Patient:in einer Risikogruppe angehört, vermutlich also bereits die
eine oder andere einschlägige Vorsorgeuntersuchung hinter sich hat.
Wenn also bereits haufenweise Abrechnungsdaten zu einer möglichen
schwerwiegenden Krankheit angefallen sind, ganz ohne dass es um konkrete
Diagnosen gehen würde. Und bei der Speicherung in der Spahn’schen Datenbank
ist lediglich eine Pseudonymisierung der Datensätze vorgesehen –
Rückschlüsse auf konkrete Personen sind damit möglich.
Ein weiteres Problem: Die elektronische Patientenakte, die Spahn mit
Nachdruck vorantreibt und in der zum Beispiel Befunde, erfolgte Impfungen
oder verordnete Medikamente gespeichert werden sollen. Zwar ist die
Teilnahme daran für Patient:innen nach aktuellem Stand freiwillig. Was
nicht freiwillig ist: Der Anschluss sämtlicher Arztpraxen, Krankenhäuser
und Apotheken an die dafür vorgesehene Infrastruktur, deren
[2][Sicherheitslücken beim Jahreskongress des Chaos Computer Clubs immer
wieder genüsslich thematisiert] werden. Dazu kommt die eher vulnerable
IT-Infrastruktur von zahlreichen Praxen – eine ungünstige Kombination, die
auch Daten von Patient:innen, die auf die elektronische Patientenakte
dankend verzichten, leichter angreifbar macht.
## Angriffspunkt Smartphone
Ende Januar kündigte Spahn an, dass Patient:innen via App auf ihre
elektronische Patientenakte zugreifen können sollen. Was den
Nutzer:innen gefühlt die Kontrolle zurückgeben soll, wird in der Praxis
das Gegenteil bewirken. Denn es gibt kaum ein ungeeigneteres Gerät für den
Zugriff auf derart sensible Daten als das Smartphone. Ein guter Teil der
Telefone ist mit Sicherheitslücken unterwegs. Und das wird sich nicht
ändern, wenn es nicht eine gesetzliche Pflicht für Hersteller gibt, die
Geräte für einen Mindestzeitraum mit Sicherheitsupdates zu versorgen. Spahn
fügt also einer sowieso schon vulnerablen IT-Infrastruktur noch einen
weiteren Angriffspunkt hinzu.
Zurück zu Pilocarpin, den Augentropfen, die durch eine Überreaktion
Hinweise auf eine Demenz- oder Alzheimer-Erkrankung geben.
Alzheimer-Erkrankungen zählen zu den Erbkrankheiten. Die Information über
eine entsprechende genetische Disposition betrifft also nicht nur den:die
Patient:in selbst, sondern auch nahe Verwandte. Genauso wie Informationen
zu Schizophrenie, vererbbaren Krebsarten, Allergien oder Parkinson.
All das sind Informationen, die für ganz unterschiedliche Kreise
interessant sein könnten: persönliche Feinde, politische Gegner oder
Versicherungen, um nur ein paar zu nennen. Mit Folgen, die weit über die
betroffenen Personen hinaus gehen – siehe vererbbare Krankheiten. Das ist
mehr als ein abstraktes Persönlichkeitsrechte-Problem.
Ein Grundsatz wäre daher wichtig für jetzt und für die Zukunft:
Gesundheitsdaten zu sammeln oder zu nutzen, muss immer das Einverständnis
des:der Patient:in voraussetzen. Das klingt trivial, ist aber angesichts
dessen, dass Wissenschaft und Industrie gern so viele Daten wie möglich
hätten, ein erster, wichtiger Schritt hin zu einer gesunden Digitalisierung
des Gesundheitssystems.
23 Feb 2020
## LINKS
[1] /Arzt-ueber-Zugriff-auf-Gesundheitsdaten/!5648846
[2] /Ungeschuetzte-Patientendaten/!5648845
## AUTOREN
Svenja Bergt
## TAGS
Jens Spahn
Gesundheit
Digitalisierung
Datenschutz
Patientensicherheit
Patientendaten
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Gesundheitspolitik
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