| # taz.de -- Anwerbung von Fachkräften in Brasilien: Gepflegte Aussichten | |
| > Deutschland braucht dringend Pflegekräfte – und findet sie in Brasilien. | |
| > Die Diakonie Sachsen wirbt dort um Azubis wie Lidia Mendes. | |
| Bild: Vor der kühlen Art der Deutschen fürchtet sich Lidia Mendes nicht: „I… | |
| Recife taz | Die hochgewachsene 20-Jährige mit den wilden Locken scheint | |
| über den löchrigen Asphalt von Recife zu tanzen, während sie geschickt | |
| Obdachlosen ausweicht, die in Hauseingängen der Millionenstadt im Nordosten | |
| Brasiliens schlafen. Ihren Sonnenschirm bugsiert Lidia Mendes zwischen | |
| Straßenschildern und Ästen von Bäumen hindurch. Die Luft flimmert vor | |
| Hitze, der Asphalt dampft: 38 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. | |
| Das Ziel der jungen Frau: der flache, rot gestrichene Bau des | |
| Deutsch-Brasilianischen Kulturzentrums CCBA in der Rua do Sossego. Dort | |
| verbringt die junge Afro-Brasilianerin seit zehn Monaten jeden Tag gut fünf | |
| Stunden. Sie will in Deutschland eine Ausbildung zur Pflegefachkraft machen | |
| – und dafür muss sie Deutsch lernen. | |
| In Deutschland fehlen allein in der Altenpflege mehr als 160.000 | |
| Fachkräfte, ein alarmierender Zustand. Die Initiative „Pflegenot | |
| Deutschland“ bezeichnet die Situation als „akut“ und weist [1][auf | |
| Personalengpässe] hin. Jede vierte Pflegekraft kommt aus dem Ausland. Die | |
| Anwerbung aus Ländern wie Marokko und Vietnam läuft seit mehr als einem | |
| Jahrzehnt, allerdings – vor allem wegen bürokratischer Hürden – eher | |
| schleppend. Die Zahl der unbesetzten Stellen nimmt weiter zu: Laut einem | |
| Bericht der Bundesagentur für Arbeit vom Mai stehen 100 gemeldeten Stellen | |
| im Pflegebereich 55 Arbeitslose gegenüber. „Im gesamten Pflegebereich ist | |
| der Bedarf an examinierten Fachkräften um einiges höher als das Potenzial | |
| an Arbeitslosen mit diesem Qualifikationsprofil“, heißt es dort. | |
| Im Juni 2023 reisten der damalige Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und | |
| Ex-Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Brasilien, um dort eine | |
| vereinfachte [2][Arbeitsmigration von Pflegefachkräften] zu vereinbaren. | |
| Doch das hoffnungsvoll verkündete Programm wurde nach einem Jahr wieder | |
| eingestellt: Es war nicht mehr klar, ob tatsächlich ein signifikanter | |
| Überhang in Brasilien bestand oder ob das Land eher eine Pflegeelite an | |
| Deutschland verlieren würde, die fünf Jahre Universitätsstudium und | |
| mindestens zwei Jahre Praxiserfahrung hinter sich hatte. | |
| Die hoch ausgebildeten Kräfte, die in Brasilien meist in Krankenhäusern und | |
| eng mit Ärzten zusammen arbeiten, waren in deutschen Pflegeheimen zudem oft | |
| weit unter ihrer Qualifikation gefordert. Seit Juni 2024 wirbt deswegen die | |
| Agentur für Arbeit keine ausgebildeten Pflegefachkräfte mehr aus Brasilien | |
| an. | |
| Doch inoffiziell läuft die Migration der PflegerInnen weiter: Nicht nur das | |
| Deutsch-Brasilianische Kulturzentrum CCBA organisiert regelmäßig | |
| Intensivdeutschkurse für verschiedene private Agenturen. Wie viele | |
| MigrantInnen so das Land wechseln, ist in keiner Statistik erfasst. | |
| Lidia Mendes hatte sich in ihrer Heimat für ein Pflegestudium interessiert. | |
| Für einen Studienplatz in der Pflege sind allerdings ebenso gute Noten | |
| notwendig wie für Jura oder Psychologie. Also büffelte die junge Frau ohne | |
| große Hoffnung allein zu Hause für die ENEM-Prüfung (Exame Nacional do | |
| Ensino Médio), um eine Hochschulzulassung zu bekommen. | |
| Bis Mendes von der Möglichkeit einer Ausbildung in Deutschland erfuhr. „Ich | |
| habe mich sofort beworben: Das war mein absoluter Traum, in der Pflege | |
| arbeiten und dann noch ins Ausland gehen!“, erzählt sie. „Ich konnte es | |
| erst gar nicht glauben, als ich angenommen wurde!“ Sie fügt fast schüchtern | |
| hinzu: „Andere Bewerber hatten schon eine entsprechende Ausbildung oder | |
| wenigstens Berufserfahrung, ich hatte nur zu Hause meine Uroma gepflegt.“ | |
| Die junge Frau stammt aus einer Arbeiterfamilie. Groß geworden ist sie in | |
| Moreno, einer 250 Kilometer von Recife entfernten Stadt, die von | |
| Zuckerrohranbau und Landwirtschaftsbetrieben geprägt ist. Mendes, die von | |
| ihrer Großmutter aufgezogen wurde, der sie bei der Pflege von deren Mutter | |
| half, wollte immer schon einen Heilberuf ergreifen. „In meiner Familie ist | |
| niemand reich, wir haben gelernt, uns durchzuschlagen“, erzählt sie. „Ich | |
| habe schon alle Jobs gemacht, die man sich vorstellen kann: mit der | |
| Schubkarre Sand karren, bei Umzügen helfen, ich bin da nicht wählerisch.“ | |
| Diese Resilienz dürfte Mendes im Ausbildungsprojekt in Deutschland | |
| zugutekommen. | |
| Sebastian Steeck ist kaufmännischer Leiter der Diakonie Leipzig und | |
| erzählt: „Wir haben mit 40 Bewerbern in Recife Auswahlgespräche geführt, am | |
| liebsten hätten wir alle genommen. Die Kommunikationsfähigkeit hat uns | |
| ebenso begeistert wie das Engagement: Manche sind bis zu 12 Stunden | |
| angereist!“ Bedingungen für die Aufnahme sein außerdem Bestnoten in | |
| Portugiesisch, Englisch und Mathematik gewesen – und die Bereitschaft zum | |
| Lernen. Die theoretische Ausbildung ist anspruchsvoll, logisches Denken und | |
| Kommunikationsfähigkeit sind von Vorteil. | |
| ## 450 Interessierte innerhalb einer Woche | |
| Der Leiter des deutsch-brasilianischen Kulturzentrums CCBAChristoph | |
| Ostendorf und Steeck haben das Programm zusammen mit weiteren Partnern | |
| entwickelt. „Wir waren uns schnell einig, dass wir keine ausgebildeten | |
| Kräfte abwerben, sondern selbst ausbilden wollten.“ Ziel sei es, Menschen | |
| eine Chance zu bieten, denen sonst weniger Türen offenstehen. Als die | |
| Ausschreibung von der Regierung des Bundesstaates Pernambuco veröffentlicht | |
| wurde, bewarben sich innerhalb einer Woche 450 Interessierte. | |
| Der Beruf der Pflegekraft ist in Brasilien sehr angesehen, deutlich mehr | |
| als in Deutschland. Die Löhne allerdings sind so bescheiden, dass studierte | |
| Pflegekräfte oft in mehreren Krankenhäusern und Gesundheitsstationen | |
| parallel Schichten machen, um über die Runden zu kommen. In Deutschland | |
| verdienen Azubis schon im ersten Lehrjahr zwischen 1.200 und 1.400 Euro | |
| brutto monatlich. | |
| Doch der Weg nach Deutschland ist für viele dennoch sehr weit: In Brasilien | |
| gilt die Familie sehr viel, familiäre Strukturen sind wichtig. Nicht | |
| leicht, wenn man das alles zurücklassen soll für Ausbildung und Job in | |
| Deutschland. Man habe in Recife deshalb einen „Elternabend“ organisiert, um | |
| sich die Sorgen und Bedenken der Familien anzuhören. „Das war sehr | |
| emotional, es sind sogar Tränen geflossen“, sagt Steeck. | |
| „Die Angehörigen wollten vor allem wissen, wer in Deutschland auf sie | |
| aufpassen würde“, erzählt Silke Ruiz, die sich im sächsischen Zwickau um | |
| die Neulinge kümmern wird. Anders als bei privaten Agenturen, die ihre | |
| Angeworbenen über ganz Deutschland verteilen, bleiben die jungen Leute aus | |
| dem Programm in Recife in zwei Gruppen in Zwickau und Leipzig zusammen. | |
| Ruiz hat bereits für eine begeisterte Fußballerin im Azubi-Projekt einen | |
| örtlichen Verein entdeckt. Gemeinsames Volleyballspiel, ein | |
| Open-Air-Kinobesuch und andere Aktivitäten sind ebenfalls geplant. Außerdem | |
| hat Ruiz Wohnungen gesucht und eingerichtet, wo jeweils mehrere der Azubis | |
| zusammen leben werden. | |
| „Ich bin so etwas wie ihre deutsche Mama“, sagt Silke Ruiz und lacht. „Der | |
| Ton in Deutschland ist manchmal rau, wenn es stressig wird, die | |
| brasilianische Kultur ist viel herzlicher, liebevoller, da muss ich den | |
| Azubis helfen, zu lernen, solche Situationen nicht persönlich zu nehmen.“ | |
| Anfangs will die Krankenschwester und Praxisanleiterin sich mehrmals | |
| wöchentlich mit den SchülerInnen treffen. | |
| Vereinzelt gibt es unter den KollegInnen auch kritische Stimmen gegenüber | |
| der Idee, „Menschen für viel Geld aus anderen Ländern zu holen und hier zu | |
| hofieren, während es doch genug junge Menschen in Deutschland gibt“. | |
| Ostendorf von der Diakonie Sachsen sagt: „Das Klima, das zurzeit durch die | |
| aktuellen Migrationsdebatten entsteht, beunruhigt uns“, sagt er. | |
| „Fachkräfte aus dem Ausland fühlen sich da nicht unbedingt willkommen, da | |
| muss sich die Politik unbedingt für mehr Differenzierung einsetzen.“ | |
| Die Wahrscheinlichkeit, rassistische Erfahrungen zu machen, sei in Sachsen, | |
| wo die AfD hohe Prozentzahlen erreicht habe, leider gegeben, sagt auch | |
| Sebastian Steeck von der Diakonie. Leipzig sei aber eine weltoffene Stadt, | |
| in der bereits 800 BrasilianerInnen und Hunderte weitere | |
| LateinamerikanerInnen lebten. Das Thema Rassismus wird in der Vorbereitung | |
| offen angesprochen. | |
| „Ich lasse mich nicht blöd anmachen“, sagt Lidia Mendes selbstbewusst und | |
| klingt dabei sehr überzeugend. „Aber ich mache mir schon Gedanken, was uns | |
| da erwarten könnte.“ In den Pflegeeinrichtungen der Diakonie Westsachsen | |
| werden die BrasilianerInnen nicht die ersten Fachkräfte aus anderen | |
| Nationen sein, und „das läuft bisher sehr gut“, sagt Ausbilderin Silke | |
| Ruiz. „Unsere brasilianischen Azubis sprühen vor Energie und bringen auch | |
| hinsichtlich ihres Spracherwerbs sehr viel Engagement mit, was die | |
| perfekten Voraussetzungen sind.“ | |
| In Leipzig kümmert sich die Integrationsbeauftragte Taciane Murmel um die | |
| BrasilianerInnen. Sie ist selbst vor sieben Jahren von Brasilien nach | |
| Sachsen gekommen. Direkten Rassismus habe sie nie erlebt, weil sie als | |
| weiße Person angesehen werde, sagt sie. Aber diskriminierende Äußerungen | |
| über ihre Herkunft habe sie sogar von Freunden gehört, etwa: „Menschen, die | |
| so reden wie du, können hier in Deutschland keine Karriere machen.“ Wie | |
| verletzend so etwas sei, könne niemand nachvollziehen, der es nicht selbst | |
| erlebt habe. „Genau das motiviert mich heute, meine Arbeit und meine | |
| Projekte hier mit noch mehr Leidenschaft und Selbstbewusstsein zu machen | |
| und andere bei ihrer Integration in Deutschland zu unterstützen.“ | |
| Vom Auswahlverfahren in Recife berichtet Murmel: „Es waren Menschen dabei, | |
| die eine Unizulassung geschafft hatten, aber das Studium nicht antreten | |
| konnten, weil ihnen das Busgeld fehlte.“ Man merke den Bewerberinnen an, | |
| dass sie einer anderen Gesellschaftsschicht entstammen als die dortigen | |
| Uni-Absolventen: Die Motivation sei enorm. | |
| Die 31-jährige Murmel sagt, sie lebe gern in Sachsen. „Als alleinerziehende | |
| Mutter finde ich die Menschen hier überwiegend sehr aufgeschlossen und | |
| hilfsbereit. Auch auf der Arbeit habe ich in jeder Mittagspause das Gefühl, | |
| dass ich hier sehr willkommen bin. Es ist eine ganz besondere Form von Nähe | |
| und Freundlichkeit, die ich eigentlich nur in Ostdeutschland erlebt habe | |
| und die mich glücklich macht“, erzählt sie. „Am Anfang ist das Wetter eine | |
| Herausforderung, diese saisonale Depression im Winter auszuhalten“, gibt | |
| sie zu, „auch sprachlich ist es am Anfang oft schwer.“ Für die Neuen gibt | |
| es deswegen zusätzlichen Sprachunterricht, der Fokus liegt auf | |
| Fachbegriffen aus dem Pflegealltag. Murmel hat Mentoren unter den | |
| KollegInnen identifiziert, die die Neuen unterstützen sollen. | |
| Lidia Mendes ist inzwischen im Kulturzentrum angekommen und sitzt bei | |
| drückender Hitze mit ihren KollegInnen im Atrium des Gebäudes. Thema der | |
| Gespräche ist natürlich Deutschland: Wie kalt es ist, welche Kleidung sie | |
| mitnehmen sollen. „Die Deutschen sollen ja eher verschlossen sein, aber | |
| alle, die wir bisher kennengelernt haben, waren sehr offen“, sagt Mendes. | |
| Ihre Vorstellungen von der neuen Heimat sind eher vage. Es ist vor allem | |
| ein großes Abenteuer, in das neue Leben auf der anderen Seite des Atlantik | |
| aufzubrechen. „Ach, wie es wirklich ist, werden wir sowieso erst wissen, | |
| wenn wir dort sind“, fasst der 21-jährige Vinicius Bezerra zusammen. „So | |
| eine Chance werde ich nie wieder im Leben bekommen“, erklärt Mendes. „Ich | |
| will auf jeden Fall auf Dauer da bleiben!“ | |
| Vor der kühlen Art der Deutschen fürchtet sie sich nicht: „Ich spreche | |
| einfach alle an“, sagt sie, bricht in ein ansteckendes Lachen aus und | |
| ergänzt: „Wenn ich denn genug Deutsch kann.“ Minuten später müssen die | |
| SchülerInnen im Unterricht kurze Vorträge halten. Manche stottern noch | |
| unsicher, andere schaffen es bereits, mehrere Minuten fast fehlerfrei und | |
| mit erstaunlich reichem Vokabular frei zu sprechen. | |
| Als Vorbereitung für die Prüfung hält das Goethe-Institut 700 bis 1.000 | |
| Unterrichtsstunden für notwendig; die Gruppe in Recife hat diese Summe in | |
| weniger als einem Jahr absolviert. „Notfalls können wir noch einen | |
| Nachprüfungstermin vereinbaren, falls es jemand nicht auf Anhieb schafft“, | |
| sagt Ostendorf. Das CCBA ist zugelassene Prüfstelle für die | |
| Goethe-Sprachzertifikate und dadurch flexibel. In der Folgewoche sollen | |
| die SchülerInnen die Deutschprüfung auf dem Level B2 machen, die ihnen | |
| ausreichende Kenntnisse für einen Berufsalltag in der fremden Sprache | |
| bescheinigt. „Wenn wir die hinter uns haben, kann uns nichts mehr umhauen“, | |
| erklärt Azubi Maria Eduarda. | |
| ## 15.000 Euro Kosten pro Azubi | |
| Die Betreuung der AnwärterInnen ist umfassend, man investiert recht viel: | |
| Schon Monate vor der Abreise treffen die Azubis ihre Betreuerinnen in | |
| Deutschland alle vierzehn Tage online, machen zusammen Hausaufgaben, | |
| besprechen praktische Fragen nach Visa und auch Persönliches. Die Kosten | |
| trägt vollständig die Diakonie: den aufwendigen Sprachkurs, die | |
| Lehrmaterialien, Fahrkosten und ein Stipendium, dessen Höhe bei den nicht | |
| aus Recife stammenden SchülerInnen den Mindestlohn ihrer Regionen | |
| übersteigt. „Insgesamt kostet uns jeder Schüler rund 15.000 Euro, bis er | |
| fertig ausgebildet ist“, rechnet Sebastian Steeck von der Diakonie Leipzig | |
| vor. | |
| Dementsprechend wichtig ist es dem kirchlichen Träger, dass ihm die teuer | |
| ausgebildeten SchülerInnen später auch erhalten bleiben. Laut Vertrag | |
| sollen die BrasilianerInnen nach der dreijährigen Ausbildung mindestens | |
| weitere drei Jahre in einer der Einrichtungen der Diakonie arbeiten. „Ich | |
| bin sicher, dass alle hier bleiben“, meint Steeck, der extra eine | |
| Sprachsoftware auf den Stationen einrichten lassen hat, mit denen die Neuen | |
| diktieren können, was sie an Pflegehandgriffen dokumentieren müssen: Die | |
| Software verbessert sprachliche Mängel automatisch. | |
| „Die Deutschen sollen ja eher verschlossen sein, aber alle, die wir bisher | |
| kennengelernt haben, waren sehr offen“, sagt Lidia Mendes. Anfang Juli geht | |
| es los, das Visa ist da, der Flug gebucht. Die Diakonie rekrutiert bereits | |
| die nächste Gruppe in Recife. | |
| 2 Jul 2025 | |
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| Christine Wollowski | |
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