| # taz.de -- Nach Corona ist vor Corona: Träum weiter, Baby | |
| > Die Freiheit scheitert nicht, weil man sich der medizinischen Faktenlage | |
| > entsprechend verhält. Sondern an und in einem selbst. | |
| Bild: Die kurze Phase der Einkehr, des diskursiven Leiserwerdens ist vorbei | |
| Dieser Moment, kurz bevor man aufwacht nach einem echt guten Traum. Halb | |
| weiß man schon, dass es nur ein Synapsenfeuerwerk war, halb zerfällt schon | |
| die Erinnerung daran. Dann macht man die Augen auf, und alles ist weg. | |
| Ein bisschen so ist es gerade mit all den Träumen von der schönen neuen | |
| Post-Corona-Welt: Weniger konsumieren wollten wir (weil: ging ja selbst | |
| ohne Klopapier ganz gut), [1][weniger reisen] (aber bitte jetzt auch nicht | |
| immer nur an die Ostsee, brrr …), besser, weil von zu Haus aus, arbeiten, | |
| besser lieben, weil durchs Homeoffice mehr Zeit dafür (eine der schönsten | |
| Paradoxien des Lebens: Lust kommt mit Langeweile). | |
| Wie am Beginn einer neuen Liebe also oder wie im Traum waren in der | |
| Pandemie erst mal alle Türen der Wahrnehmung weit offen. Eine neue Welt, | |
| ohne Flugzeuge, ohne Autos, mit mehr Muße, schien endlich möglich. Break on | |
| through, to the other side. Wenn es keinerlei Erfahrung gibt, auf die man | |
| bei einem neuen Lieblingsmenschen oder in dieser neuen Situation | |
| zurückgreifen kann, ist erst mal alles möglich. Also auch das Beste, | |
| Schönste, Wahrste. | |
| Aber natürlich auch das Schlimmste, Gemeinste, Grässlichste. Das ist der | |
| Moment, wo aus der schönen Freiheit erst wieder Angst und Abschottung, | |
| Selbstschutz und in der Folge dann dumpfer Alltag wird. Weil gegen das | |
| Schlimme muss man sich – bei aller Liebe zur Freiheit – natürlich wappnen, | |
| das darf nicht eintreten. Als ob uns das Leben als einziger Opiumrausch | |
| versprochen worden sei, schmerz- und ungemachfrei. Und wumms, schon sind | |
| die Türen wieder zu. | |
| Klar: auch die ganze Pandemiebekämpfung ist ein einziger Versuch, das | |
| Schlimmste zu verhindern. Aber eben nicht | |
| gesellschaftlich-emotional-theoretisch, sondern physisch-reell. [2][Macht | |
| das also was mit der Freiheit]? Ich würde sagen: Nein. Beim Versuch, die | |
| Bevölkerung nicht sterben zu lassen, mag der Einzelne sich eingeschränkt | |
| fühlen, am Ende geht es dabei aber um die Freiheit aller, unversehrt | |
| weiterzuleben. | |
| Die eigentliche Freiheit scheitert nicht, weil man sich der medizinischen | |
| Faktenlage entsprechend verhält. Sondern an und in einem selbst, im | |
| Angesicht der Fülle von Möglichkeiten, die sich ergibt, wenn das Gewohnte | |
| zusammenbricht. Das ist Chaos, Überforderung, dann kehrt man halt lieber | |
| zurück zum alten Trott. | |
| Der Wunsch nach Kontrolle ist ja auch, wie neulich die Psychologin Pia | |
| Lamberty im Radio erzählt hat, ein Motiv für Verschwörungsglaube. | |
| Tatsächlich sind Leute mit prekären Arbeitsverhältnissen, Menschen in | |
| Teilzeit oder Kurzarbeit, anfälliger für Irrglauben als Leute mit mehr | |
| Sicherheiten. Ein Grund mehr, endlich Arbeit neu zu denken, ihren Wert für | |
| den Selbstwert zu hinterfragen und vor allem über ein bedingungsloses | |
| Grundeinkommen zu diskutieren. Oder einfach die Leute angemessen zu | |
| bezahlen. | |
| Aber sosehr ich mir mehr finanzielle Sicherheit für alle wünsche, so sehr | |
| wünsche ich mir – wenn wir heute schon beim Träumen sind – weniger | |
| Fixierung auf Sicherheit in allen anderen Bereichen. Sicher ist nix, das | |
| ganze Leben ein einziges Risiko, und wie jämmerlich das Ganze am Ziel | |
| vorbeischlittern kann, sieht man an den Impfskeptikern. Aus Angst vor sehr, | |
| sehr unwahrscheinlichen Komplikationen gehen sie lieber den sicheren Weg | |
| des Nichtstuns. Bis sie intubiert auf der Bahre liegen. Denselben Preis | |
| gibt’s übrigens auch für die Freiheitsfanatiker, die aufrechten Kämpfer f�… | |
| ihre Bürgerrechte, die auch in der Pandemie nicht darauf verzichten wollen, | |
| [3][oben ohne (Maske)] zu gehen. Ob Freiheit oder Sicherheit, am Ende | |
| gibt’s immer den Tod. | |
| Deshalb wär’s so schön, es würden sich weniger Menschen, egal aus welcher | |
| ideologischen Richtung sie sich dem Unausweichlichen nähern, weniger | |
| fürchten und weniger aufregen. | |
| Das aber widerspricht wohl dem menschlichen und – laut Pia Lamberty aber | |
| vor allem männlichen – Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Rausstechen aus der | |
| Masse geht am leichtesten mit steilen Thesen und kruden Ansichten. Auch | |
| deshalb sind Männer angeblich anfälliger für Verschwörungsmythen und | |
| Ideologien aller Art. Je weniger Menschen der eigenen, abseitigen Theorie | |
| logisch noch folgen können, desto schlauer kann man sich fühlen. | |
| Kurz: ich bin enttäuscht. Die kurze Phase der Einkehr, des diskursiven | |
| Leiserwerdens ist vorbei. Vorbei die Zeit, sich aus der Distanz des | |
| Homeoffice heraus die größeren Fragen anzugucken. Längst ist wieder | |
| Halligalli angesagt. Die Pandemie ist zwar alles andere als vorbei, | |
| trotzdem wird wieder über jeden Tweet und jedes metaphysische Magengrummeln | |
| diskutiert – und bei Bedarf in alter, hitziger Gewohnheit eskaliert. | |
| Nichts hat sich geändert, es macht mich so müde. Ich denke, es ist Zeit für | |
| ein Schläfchen, ein kurzer Nap, um wenigstens in meinem Kopf ein paar Türen | |
| zu öffnen. | |
| 3 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ariane Lemme | |
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