# taz.de -- Literarische Stadtspaziergänge: Heimlich mit Literatur versorgt | |
> Am 1. Dezember vor 300 Jahren wurde Anna Louisa Karsch geboren. Sie gilt | |
> als erste Dichterin, die von ihrer Kunst leben konnte. | |
Bild: Ausschnitt aus einem Porträt von Anna Louisa Karsch, gemalt von Karl Chr… | |
Januar 1751, es ist ein harter Winter. Anna Louisa Karsch kann sich in | |
dieser Zeit gerade noch ein Bündel Holz leisten, um ihren Kindern etwas | |
Wärme zu spenden. Es reicht nicht mal für warme Kleidung. Ihr versoffener | |
zweiter Ehemann ist keine Hilfe. Der erste hat sie schwanger sitzen lassen. | |
Zehn Jahre später hat Karsch eine Privataudienz beim Preußenkönig Friedrich | |
II. Er will die Dichterin kennenlernen, von der alle sprechen. | |
Anna Louisa Karsch, das ist die Geschichte eines unmöglichen Lebens. In | |
ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, sieben Kinder zur Welt gebracht, drei | |
davon verloren. Und doch eine Karriere als Schriftstellerin gemacht. Am | |
Ende konnte sie von ihrer Kunst leben. Als erste Frau in Preußen. Eine | |
Sensation für die damalige Zeit. | |
Am 1. Dezember wird ihr 300. Geburtstag gefeiert. Feiern ist vielleicht zu | |
viel gesagt. In Berlin hat das [1][Literaturforum im Brechthaus] eine | |
kleine Veranstaltungsreihe zu ihren Ehren angesetzt. Die [2][Berliner | |
Autorin Annett Gröschner] hat pünktlich zu ihrem Jubiläum ein Buch über | |
Karschs Gedichtreihe „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ veröffentlicht. Im | |
Wallstein Verlag erscheint eine neue Edition ihrer Briefe und Gedichte und | |
das Gleimhaus in Halberstadt hat eine Ausstellung organisiert. Großartig, | |
dass es das gibt. Dennoch viel zu wenig, für eine solche Frau. Karschs | |
Biografie klingt wie ein Märchen, aber wirklich märchenhaft ist daran | |
wenig. | |
Karsch muss sich durchbeißen. Sie muss gefallen, bitten und betteln. Sie | |
muss sich gegen Strukturen durchsetzen, in denen jemand wie sie – eine Frau | |
aus armen Verhältnissen – nicht vorgesehen ist. Anders als viele ihrer | |
privilegierten männlichen Kollegen braucht sie mehr als nur ein | |
außergewöhnliches Talent: mehr Durchsetzungskraft, mehr Wohlwollen, mehr | |
Anpassungsfähigkeit – und mehr Glück. | |
## Gastwirtstochter aus der Provinz | |
Alles begann damit, dass ein Großonkel die sechsjährige Anna Louisa zu sich | |
nimmt. Er bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Aufgewachsen ist sie als | |
Gastwirttochter in der schlesischen Provinz. Bildung war für Mädchen wie | |
sie nicht vorgesehen. Die Mutter holt sie zurück, damit sie im Haus | |
mithilft. Aber ein Rinderhirt mit erstaunlichem Hang zu Büchern versorgt | |
sie heimlich mit Literatur. | |
Danach eine Durststrecke. Sie wird mit fünfzehn Jahren verheiratet, bekommt | |
vier Kinder, der Ehemann verlässt sie. Sie ist die erste geschiedene Frau | |
in Preußen. Der zweite Ehemann ist ein gewalttätiger Säufer, der sie | |
dreimal schwängert. 1755 zieht die Familie nach Glogau. Zu diesem Zeitpunkt | |
ist Karsch 33 Jahre alt. Für eine Frau in dieser Zeit ein schon weit | |
fortgeschrittenes Alter. | |
In einem ihrer vielen Briefe schreibt sie, dass sie in ihrer ersten Ehe | |
begonnen habe, am Spinnrad Kirchenlieder umzudichten. Später beginnt sie, | |
Gelegenheitsgedichte für Festlichkeiten in adeligen und bürgerlichen | |
Kreisen zu verfassen. Ihr Talent spricht sich rum. Und als sie mit Beginn | |
des Siebenjährigen Krieges 1756 Lobeshymnen auf den Preußenkönig Friedrich | |
II. schreibt, spricht man sogar in Berlin von ihr. Ihre Kunst verhilft ihr | |
zu neuen Kontakten. Zum Teil so mächtig, dass es ihr darüber gelingt, ihren | |
verhassten Mann in den Krieg schicken zu lassen. | |
Einer ihrer Förderer, Rudolf Gotthard Baron von Kottwitz, lädt Anna Louisa | |
Karsch und ihre einzige verbliebene Tochter Caroline Luise nach Berlin ein. | |
Sie wird triumphal empfangen. „Sobald man hörte, die Karschin sei | |
angekommen, so eiferte auch alles, was Geschmack haben wollte, um die | |
Wette, dieses Wunder von Frau zu sehen“, sollte die Tochter später | |
schreiben. | |
Karsch stößt in das Herz der geistigen Elite Preußens vor. Sie verkehrt in | |
den besten Kreisen, wird herumgereicht. Zwei Jahre später hat sie ihre | |
Audienz beim Preußenkönig. | |
## Zeit des Umbruchs | |
Wie war diese Karriere möglich? „Karsch kam zugute, dass sie in einer Zeit | |
des geistigen Umbruchs lebte, in der man auf der Suche nach neuen | |
Kunstkonzepten war“, sagt Ute Pott, Direktorin des Gleimhauses in | |
Halberstadt, wo am 2. Dezember eine Ausstellung zu Anna Louisa Karsch | |
eröffnet. Ein neues Künstlerideal wurde gesucht. Nicht mehr der kultivierte | |
Umgang mit althergebrachten ästhetischen Regeln war von Bedeutung. Gesucht | |
wurde vielmehr ein Genie, das frei von jedem Regelwerk die Kunst aus sich | |
selbst herausschöpft. | |
Karsch bot dafür die perfekte Projektionsfläche. Der Berliner | |
Ästhetikprofessor Johann Georg Sulzer schrieb 1761 in einem Brief über sie: | |
„Es hat sich hier im Reich des Geschmacks eine neue und wunderbare | |
Erscheinung gezeigt. Eine Dichterin, die bloß die Natur gebildet hat und | |
die, nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht.“ | |
Sie wurde bestaunt – aber auch begafft wie eine Zirkusattraktion. Die | |
Karschin selbst war sich der Problematik dieses „Wunderkind-Status“ | |
durchaus bewusst: Es fehle ihr nicht „an Gesellschaften“, schreibt sie in | |
einem Brief. Man suche sie nur zu oft, aber „diese Zerstreuungen sind für | |
mich weder nützlich noch angenehm, man will seine Neugierde befriedigen, | |
man gafft mich an und klatscht mit den Händen und ruft ein Bravo, als wenn | |
alle meine Reden kleine Zaubersprüche wären“. | |
Bald wird der Hype um sie hinterfragt. Der Philosoph und Dichter Karl | |
Wilhelm Ramler schreibt 1761: „Wo sie ist, fallen Verse von ihr heraus; sie | |
ist ein unerschöpfliches Füllhorn von Poesie. In allen ist etwas Gutes […] | |
Nur dass sie die Kunst noch nicht gelernt hat.“ | |
Karsch wird für die Berliner literarischen Kreise „zum Experiment“, sagt | |
Karsch-Kennerin Ute Pott. Als 1763 ihr erster Poesie-Band „Auserlesene | |
Gedichte“ publiziert wird, überwiegen die kritischen Stimmen. Karsch merkt | |
schnell, in welchen „Zwiespalt“ sie da geraten sei, und macht | |
„autobiographisch gefärbtes Schreiben zu ihrem Markenzeichen“, so Pott. | |
„Hier durfte ‚die Natur‘ sich wieder zeigen.“ Auf einige Briefe lässt … | |
zuerst Tränen tropfen, bevor sie mit dem Schreiben beginnt. | |
Karsch weiß, wie wichtig solche Selbstinszenierungen sind. Auf dem Spiel | |
steht nicht weniger als ihre Existenz. Der erfolgreiche Verkauf ihres | |
ersten Gedichtbands sicherte ihr zwar ein bescheidenes Einkommen, das Geld | |
bleibt trotzdem knapp. | |
Von der Audienz beim Preußenkönig 1763 erhofft sie sich eine monatliche | |
Unterstützung, vielleicht gar ein Haus. Doch der König speist sie mit | |
Almosen ab. Sein Nachfolger, Wilhelm Friedrich II., ist großzügiger: Er | |
baut ihr 1789 ein Haus am Hackeschen Markt in Berlin. Zwei Jahre vor ihrem | |
Tod am 12. Oktober 1791 zieht sie ein. Eine späte Erfüllung. | |
Anna Louisa Karsch sei „Role Model und Alb zugleich“, sagt die Berliner | |
Autorin Annett Gröschner auf einer Veranstaltung des Literaturforums im | |
Brechthaus zum 300. Geburtstag der Schriftstellerin. Role Model, weil sie | |
eine der wenigen Frauen ihrer Zeit war, die von ihrer Kunst leben konnten. | |
Ein Alb, weil sie das nur schaffen konnte, weil andere, vor allem Männer, | |
es ihr erlaubten. Eine Erkenntnis, die noch heute auf zu viele Frauen | |
zutrifft. Talent allein reicht nicht. Am Ende muss es oft immer noch | |
zuvorderst Männern gefallen. | |
1 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://lfbrecht.de/mediathek/anna-louisa-karsch-in-ihrer-zeit/ | |
[2] /Gedenken-an-Barbara-Koehler/!5741567 | |
## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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