# taz.de -- Nachruf auf Aldona Gustas: „Ich bin ein blauer Apfel“ | |
> Am 8. Dezember starb die Lyrikerin Aldona Gustas in Berlin – der Stadt, | |
> die sie liebte. Sie gehörte, wie Günter Grass, zur Gruppe der | |
> Malerpoeten. | |
Bild: Aldona Gustas, Lyrikerin und Malerin im Jahr 2011 | |
Es gibt ein biografisches Gedicht von Aldona Gustas, das kürzer nicht sein | |
könnte und das mit ihrem Tod am 8. Dezember 2022 erst vollendet ist: | |
„Ich war lange 1932 / ich war lange 1945 / ich war lange 1952 / ich war | |
lange 1962 / ich war lange 1972 / in den Jahren dazwischen / lebte ich | |
kurz“ | |
Da sie nie Punkte setzte, es wäre ihr vorgekommen wie ein Stottern, wie sie | |
in einem Interview sagte, setzt nun der Tod den Schlusspunkt. | |
Aldona Gustas war Lyrikerin und Malerin. Eine eigene, eigensinnige und in | |
ihrer Strenge und Beharrlichkeit, mit der sie sich der Poesie verschrieb, | |
kompromisslose Frau. Dennoch aber strahlte sie Zartheit und Sinnlichkeit | |
aus. Das mit der Sinnlichkeit betonte sie selbst. Sie nennt sich einen | |
[1][„Lolitatyp“, auch „Erotomanin“]. Das habe nicht unwesentlich damit … | |
tun, dass sie im Alter von neun Jahren von einem polnischen Nachbarjungen | |
verführt worden sei und die Liebe kennengelernt habe. Darauf angesprochen, | |
hat sie diese Episode in ihrem Leben immer verteidigt. Sie wollte nicht, | |
dass ein Schatten darauf liegt. | |
Die Stationen ihres Lebens, wie oben im Gedicht erwähnt, lösen sich so auf: | |
1932 kommt sie in Litauen zur Welt; sie ist deutschstämmig, Litauisch aber | |
ist ihre Muttersprache. 1945 erreicht sie nach langer Flucht 13-jährig mit | |
ihrer Mutter und ihrem ein Jahr alten Bruder Berlin. Sie verliebte sich | |
sofort in die Stadt – trotz all der Ruinen. Sie hat ihr unzählige Gedichte | |
gewidmet. | |
„Aus litauischen Wäldern kommend / ging die Stadt mir unter die Haut“ | |
1952 heiratet sie Georg Holmsten. Er ist Journalist und Chronist. Er | |
gehörte zur Gruppe des 20. Juli um Stauffenberg. Einer der wenigen, die das | |
gescheiterte Attentat auf Hitler überlebten. Gustas habe ihn geheiratet, | |
weil er keine Kinder wollte, sagte sie. Sie sei kein Familienmensch. | |
## Die einzige Frau unter den Malerpoeten | |
Im Jahr 1962 kommt ihr erster Gedichtband heraus. Bald danach fängt sie an | |
zu malen, vor allem sinnlich-sphärische weibliche Figuren, mitunter malt | |
sie sie mit einem einzigen Strich. | |
Im Jahr 1972, das sie in ihrem Gedicht auch erwähnt, wurde die Gruppe | |
„Berliner Malerpoeten“ gegründet. Zu den Malerpoeten gehören Leute wie | |
Günter Grass, Kurt Mühlenhaupt, Wolfdietrich Schnurre. Günter Bruno Fuchs – | |
Schriftsteller, die auch malen; Maler, die schreiben. | |
Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung ist sie nun als Letzte der 14 | |
Mitglieder umfassenden Gruppe verstorben. Sie war die einzige Frau. Die | |
Männer waren dagegen, weitere malende Lyrikerinnen aufzunehmen, obwohl | |
Gustas das gerne gewollt hätte. | |
Ihr Leben endete nicht 1972 mit der Gründung der Malerpoeten. Es festigte | |
jedoch das, dem sie sich verschrieben hatte. Der Lyrik, die in ihrer | |
bildhaften Kürze kalligrafisch war, und dem Malen, das in seiner | |
Reduzierung stumme Poesie blieb. | |
## Pure Liebe, pures Licht | |
Der Höhepunkt ihres Schaffens – oder anders gesagt, das von mir am meisten | |
bewunderte Buch von ihr – ist [2][ihre Totenklage] auf Georg Holmsten. Zehn | |
Jahre lang pflegte sie ihren Mann. Sie fasst den Liebes- und Schmerzensweg | |
dieser Zeit in ungefähr 700 Gedichte. Ungefähr, weil sie sie nicht zählte. | |
Das Buch, das nach dem Tod von Holmsten im Jahr 2011 erschien, hat den | |
Titel „Untoter“. Es ist pure Liebe. Pures Licht. | |
Gustas brauchte nur wenige Zeilen, um wissend und vorausschauend sich | |
selbst zu verorten. Nicht nur von den Jahreszahlen her, wie sie im anfangs | |
zitierten Gedicht der Ästhetik eines Lebenslaufes nahe kommen. Sondern auch | |
bezogen auf ihr Menschsein. [3][In einem Film], der aufgenommen wurde, als | |
sie bereits an Demenz erkrankt war, tragen ihr MusikerInnen der Gruppe | |
[4][Die Papillons] vor dem Heim in Kreuzberg, in dem sie wohnte und am | |
Fenster stand, eines ihrer frühen Gedichte vor, in dem sie ihr Leben in nur | |
drei Zeilen umspannt: | |
„Ich bin ein blauer Apfel / der zu keinem Baum gehört / ich sterbe aus“ | |
24 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!773044&s=gustas/ | |
[2] /Archiv-Suche/!619984/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=CE4J4HzjY94 | |
[4] https://www.unionhilfswerk.de/angebote/pflege/pflegewohnheime/pflegewohnhei… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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