# taz.de -- Eröffnung Literaturbühne am Mehringplatz: Von unruhigen Seelen | |
> Mit Gedichten, die von Ausgrenzung und Einsamkeit erzählen, hat die | |
> Literaturbühne „Das literarische Rondell“ am Mehringplatz eröffnet. | |
Bild: Markus Liske (2. v. links) und Manja Präkels mit den Musikern des Singen… | |
BERLIN taz | Störenfried aus Beton, so nennen Manja Präkels und Markus | |
Liske den Mehringplatz in Berlin Kreuzberg. Ein Störenfried am Eingang der | |
Friedrichstraße, die ein paar hundert Meter weiter Einkaufsboulevard und | |
Touristenmeile wird. Das Autorenduo wohnt nicht nur dort und [1][schreibt | |
über die Gegenwart des Mehringplatzes] als Teil eines belasteten | |
Sozialbauviertels und seine Bedeutung im literarischen Berlin in früheren | |
Epochen. Am Donnerstag eröffneten sie dort auch im Café MadaMe „Das | |
literarische Rondell“, eine neue Literaturbühne und Lesungsreihe. | |
Über zehn Jahre lang war der Platz eine Baustelle, die den Alltag | |
anstrengender machte. [2][Dass nun Erdhügel und Bauzäune verschwunden | |
sind], ist Anlass für diese Initiative. Aber nicht nur; es scheint vor | |
allem auch der Wunsch von Manja Präkels und Markus Liske dem Platz etwas zu | |
geben, ihm eine Facette zurückzuerstatten, die in den letzten Jahre fast | |
verloren ging, eine Anbindung an die Literatur. | |
Im Café MadaMe ist es voll an diesem Donnerstag, man jongliert mit Getränk | |
und einer leckeren Empanada – nach dem Rezept der Großmutter des Wirtes – | |
an seinen Platz. Auch auf der Bühne ist es voll, Manja Präkels und Markus | |
Liske sind mit „Der Singende Tresen“ gekommen, einer dreiköpfigen Band, die | |
mit Bass, Gitarre, Saxophon, Akkordeon und noch mehr die Gedichte | |
begleitet, einfühlsam, jazzig, melancholisch, witzig. (Später kommt noch | |
ein Hund und ein gelegentliches Wuff dazu.) Schon als Konzert ist die | |
Lesung ein Genuss und die Präsentation sehr charmant. | |
Die Gedichte, die sie lesen, führen durch gut zweihundert Jahre deutsche | |
Literatur – denkt sich die Germanistin. Aber entscheidender ist, sie | |
erzählen über verschiedene Epochen hinweg vom Unbehausten, von unruhigen | |
Seelen, die sich wund stoßen an den Forderungen der Gesellschaft, von | |
Obdachlosen, von Verjagten, von zurückgewiesenen Kindern, von einem Kampf | |
gegen Mächte, denen Ordnung wichtiger ist als Menschlichkeit. | |
Es sind Texte von Friedrich Hölderlin, Erich Mühsam, Irmgard Keun, Mascha | |
Kaléko, Christa Reinig, Günter Bruno Fuchs und anderen, die gelesen werden. | |
Über Erich Mühsam haben Präkels und Liske auch in einer [3][Publikation des | |
Hau] geschrieben, die diese Woche der taz beilag und ein weiteres | |
Kulturprogramm für den Platz ankündigt. Darin erzählen sie, wie Mühsam, | |
Gründer der Bayerischen Räterepublik im November 1918, kurz darauf in | |
Berlin am Anhalter Bahnhof ankam, gefeiert werden sollte von Genossen, aber | |
dafür schon zu geschwächt war durch vorausgegangene Gefängnisaufenthalte. | |
## Aus der Gefängniszelle und am Landwehrkanal | |
In ihrer dichtgepackten Lesung aber erzählen sie nichts über die Autoren, | |
sondern halten sich an deren Gedichte. Von [4][Erich Mühsam] ist es „In der | |
Zelle“: „Gefängnis: Leben ohne Gegenwart, /ganz ausgefüllt von der | |
Vergangenheit/ und von der Hoffnung ihrer Wiederkehr. / Du fragst nicht, ob | |
du weich ruhst oder hart, /ob deine Schüssel voll ist oder leer. /Betrogen | |
um den Augenblick verrinnt die Zeit.“ Es ist der Schmerz und die Gefühle | |
des Verlustes, die gegenwärtig werden in der Lesung. | |
In der Pause, draußen vor dem Café, erwähnt Markus Liske, dass Günter Bruno | |
Fuchs hier ganz in der Nähe gelebt hat. Sein „Lied der Kanalpenner“, von | |
Präkels und den Musikern mit rhythmischen Überraschungen wunderbar | |
performt, ist der Stadtlandschaft am Landwehrkanal auf den hungrigen Leib | |
geschrieben: „Der Kanal hat Dampfer und Ladekähne. / Der Kanal hat | |
Fischkähne auf seinem Rücken. /Der Kanal hat eine Wasserleiche im Herzen. | |
/Das Herz ist das Schauhaus. /Der Kanal hat einen Schuster geschluckt. /Der | |
Schuster macht Schuhe für einen großen Fisch.“ | |
Und es schließt sich ein Gedicht an der fast vergessenen Dichterin Christa | |
Reinig, „Fische“, das sehr launig und lustig klingt: Die Fische betrachten | |
das Geangelt-werden und aus dem Wasser-Verschwinden als kosmonautischen | |
Ausflug in den Weltraum. Die Lesung entwickelt da ihre eigene Logik, sie | |
folgt in der Verkettung der Texte verschiedenen Spuren von Menschen und | |
Tieren durch Städte und Länder. Und auch vom Mehringplatz und seinen | |
Bewohnerinnen lassen sich ja viele Verbindungen in die Welt ziehen. | |
„Das literarische Rondell“, an dem auch das Hebbel am Ufer, der Verbrecher | |
Verlag, Kunstwelt Berlin e.V und andere beteiligt sind, will an jedem | |
ersten Donnerstag im Monat ins Café MadaMe einladen. Die nächste Lesung, am | |
7. Juli, kommt von [5][Eva Ruth Wemme, „Meine 7000 Nachbarn“] über die | |
Erfahrungen von Roma in Berlin. | |
Das Hebbel am Ufer, in der Nachbarschaft des Mehringplatzes, startet am 17. | |
Juni das Programm „Treffpunkt Mehringplatz“, wo Manja Präkels Geschichten | |
der Anwohner sammelt und viele dem Hebbel verbundene Künstler:innen, wie | |
She She Pop, teilnehmen. Das Café MadaMe ist dann auch wieder als Ort | |
dabei, für eine [6][Lesung der Gedichte] von [7][Semra Ertan], einer | |
türkischen Dichterin und Aktivistin, die sich sehr jung das Leben nahm. | |
3 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Suedliche-Friedrichstadt-und-Mehringplatz/!5717253 | |
[2] /Mehringplatz-und-Pfad-der-Visionaere/!5852328 | |
[3] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-projekte/berlin-bleibt-4/ | |
[4] /Erich-Muehsams-Tagebuecher/!5611820 | |
[5] /Archiv-Suche/!5211050&s=Wemme+Nachbarn&SuchRahmen=Print/ | |
[6] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/berlin-bleibt-4-lesung-semra… | |
[7] /Todestag-von-Semra-Ertan/!5774155 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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