# taz.de -- Gemeinschaftsgärtner über Mehringplatz: „Wir sind wichtig für … | |
> In der Südlichen Friedrichstadt ist eine Freifläche für Projekte und | |
> Urban Gardening entstanden. Zwei Gärtner über Zukunft und Gegenwart des | |
> Viertels. | |
Bild: Aus grau wird grün: Auf vielen Brachen in Berlin sind mittlerweile Gemei… | |
taz: Andreas Roth, Michael Westrich, wir befinden uns hier direkt auf der | |
Brache neben dem taz-Neubau. Was genau machen Sie hier eigentlich? | |
Roth: Die Bauhütte, vor der wir hier sitzen, stand früher ja auf einem | |
Parkplatz am Besselpark und war dazu gedacht, die großen Veränderungen, | |
also die Baustelle auf dem Gelände des Blumenmarkts, im Kiez zu vermitteln. | |
Darum war ja auch die taz als Bauherr an der Bauhütte beteiligt. | |
Roth: Genau. Und im Mai 2019 sind wir auf diese Brache gezogen und haben | |
erst mal ein halbes Jahr gebraucht, die Wüste, die uns die taz hier | |
hinterlassen hat, herzurichten (lacht). Im Herbst 2019 haben wir dann mit | |
einer Party losgelegt. | |
Was machen Sie heute hier? | |
Roth: Heute ist die Bauhütte Kreuzberg ein gemeinnütziger Verein, und wir | |
kümmern uns als Träger um diese Brache hier. Als Plattform „Frieda Süd“ | |
arbeiten wir mit zahlreichen Initiativen zusammen, etwa mit dem Café | |
Grundeinkommen, der Fahrradselbsthilfewerkstatt, dem Sprechcafé, der Schule | |
für Erwachsenenbildung, den Urban-Gardening-Projekten „Im Garten“ und | |
„Weltacker“. Außerdem gibt es einen Nachbarschaftschor, die Initiative | |
KlimaNeustart Berlin, das Pro-Feministische Netzwerk Berlin und vieles | |
mehr. Es sind so viele geworden, die hier Sachen machen wollen, dass es | |
inzwischen lange Wartelisten gibt. | |
Sprechen Sie damit auch die Alteingesessenen an? | |
Roth: Uns freut sehr, dass die umliegenden Berufsschulen und | |
Bildungseinrichtungen des zweiten Bildungsweges den Ort vor allem | |
vormittags intensiv nutzen. Dann gibt es eine Ruhephase, und nachmittags | |
kommen die Familien mit Kindern, die vor allem die Sandkästen bespielen. | |
Und abends sind hier inzwischen fast immer irgendwelche Gruppen, manchmal | |
auch mehrere gleichzeitig. Keiner soll das Gefühl haben, er dürfte hier | |
nicht rauf. | |
Was ist das Ziel? | |
Roth: Unser Ansatz ist, niedrigschwellig zu sein und ein möglichst diverses | |
Angebot zu schaffen. Daher war unsere Idee von Anfang an, alles zu | |
ermöglichen, was geht und was sich die Menschen vor Ort wünschen. Also, das | |
Rezept ist eigentlich vor allem: Ich sage nie nein, bin immer offen – und | |
kontinuierlich da. | |
Da drüben sitzen jetzt fünf Jugendliche, würden Sie die ansprechen? | |
Roth: Nein, die machen ihrs. Man kennt ja das Phänomen, dass man im Laden | |
nicht angequatscht werden will. Man kann hier einfach sein. Jeder kann sich | |
den Raum aneignen, und wir moderieren nur. Den einzigen Köder, den wir | |
haben, um Gespräche anzuschieben, ist das Getränkeangebot auf Spendenbasis. | |
Dieser Kiez ist nicht unproblematisch, es gibt viele arme Familien. Wie | |
begegnen Sie dem? | |
Roth: Wir freuen uns sehr, dass hier mittlerweile Schulen angedockt haben, | |
also etwa die Otto-Wels-Grundschule, die hier Schulbeete angelegt. Auch | |
indem wir hier Leute aus aller Welt haben, aus allen Kulturen und Sprachen, | |
zum Beispiel einen irakischen Kulturverein. | |
Kann man die Menschen, die an diesen Ort kommen, überhaupt noch zuordnen | |
und in Schubladen stecken? | |
Roth: Meine persönliche Meinung? Natürlich haben wir Codes, Habitus, | |
Klamotten – und natürlich kann ich die Menschen identifizieren und | |
einordnen. | |
Westrich: Der Witz an dem Projekt ist, dass sich beim gemeinsamen Bauen, | |
Gestalten und Gärtnern natürlich Differenzen auftun – sich diese aber | |
gleichzeitig gut bearbeiten und verhandeln lassen. | |
Nun treffen sich hier auch neue mit alten Nachbarn, Menschen, die Angst | |
haben, verdrängt zu werden, und Menschen, die bereit sind, hohe Mieten zu | |
zahlen. Gab es da nie Konflikte? | |
Roth: Ganz am Anfang gab es mal etwas Spannendes, das dann aber leider | |
schnell wieder aus der Welt war. Da hatten wir Graffiti am Garten: „Was | |
sollen die blöden Tomaten? Wir brauchen Wohnungen!“ Das ist mittlerweile | |
komplett verschwunden, tauchte nie wieder auf, was ich ebenso spannend | |
finde. Eines unserer aktivsten Vereinsmitglieder ist auch Mitglied bei | |
Mehringplatz West, der Mieter*innen-Ini gegen Verdrängung. | |
Westrich: Wenn wir länger bleiben dürfen, werden wir noch gezielter | |
versuchen, alte und neue Nachbarschaften durch soziokulturelle Projekte | |
zusammenzubringen. | |
Gibt es Vandalismus? | |
Roth: Ganz am Anfang wurde mal eine Scheibe zerdeppert. Viele Obdachlose | |
sehen es auch als Möglichkeit, hier mal zu verschnaufen, aber auch da | |
blieben die Auseinandersetzungen völlig im Rahmen. Kürzlich dachten wir, | |
dass uns jemand Gemüse klaut, aber ich glaube, das waren nur die | |
Eichhörnchen. | |
Also wie im idealen Dorf? | |
Westrich: Genau. Oder auch in Vereinen, von denen ja schon Max Weber | |
wusste, dass sich dort wirklich alle begegnen. | |
Haben Sie das Gefühl, dass das Quartier ein Labor für eine Stadtentwicklung | |
der anderen Art werden könnte? | |
Roth: Ich bin jetzt seit einigen Jahren hier und habe schon den Eindruck, | |
dass sich der Diskurs geändert hat. Am Anfang herrschte eher noch der | |
Tenor, das Quartier sei so arm, man müsse es aufwerten. Mittlerweile ist | |
das gekippt, die Maßstäbe haben sich verschoben. Gentrifizierung will kein | |
Mensch mehr, Verwahrlosung aber auch nicht. Also: Wo ist das Dazwischen, wo | |
der dritte Weg? Wo soll es hingehen? Ich habe das Gefühl, dass da gerade | |
auch die Politik nach neuen Schwerpunkten sucht. | |
Westrich: Wir würden uns wünschen, dass die, die hier wohnen, hier auch | |
weiterwohnen können. Es muss der Attraktivität des Viertels ja keinen | |
Abbruch tun, wenn der Wohnraum bezahlbar bleibt. Das ermöglicht ja erst, | |
dass schöne, nichtkommerzielle Orte wie unserer entstehen. | |
Wie wollen Sie über den Winter kommen? | |
Roth: Wir haben begonnen, Sportangebote zu machen. Damit erreicht man | |
Jugendliche. Das geht auch, wenn es kalt wird. | |
Und wie lang dürfen Sie die Brache noch nutzen? | |
Westrich: Der Vertrag läuft zum Jahreswechsel aus, wir hoffen aber | |
inständig, dass es weitergeht. Wir haben den Eindruck, dass wir für den | |
sozialen Zusammenhalt im Viertel enorm wichtig geworden sind. So viel Zeit | |
hatten wir bisher ja nicht – dafür sind wir schon weit gekommen. | |
10 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
## TAGS | |
Urban Gardening | |
soziale Ungleichheit | |
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin | |
Berlin-Kreuzberg | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
soziale Ungleichheit | |
Klaus Lederer | |
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