| # taz.de -- Videokunst in der Halle am Berghain: Die Schlangen des Spreewalds | |
| > Unter dem Pflaster Berlins ist Sumpf. Jakob Kudsk Steensen erzählt davon | |
| > in seiner Ausstellung „Berl-Berl“ von in der Halle des Berghain. | |
| Bild: Eine Künstliche Intelligenz steuert Bild und Ton in der Ausstellung | |
| Die Natur existiert auch unabhängig vom Menschen – und kommt auch ganz gut | |
| ohne ihn aus. Menschen jedoch gibt es nicht ohne die Natur. Das wird in | |
| Städten gerne mal vergessen, also an jenen Orten, in denen die Natur vor | |
| vielen Jahrhunderten einst umgepflügt, planiert, eingezäunt und mit Lehm, | |
| Stein oder Beton, quasi einer zweiten, menschengemachten Natur versiegelt | |
| wurde. | |
| Bis auf ein paar einsame Bäume am Straßenrand, vom Balkon winkenden Rosen | |
| oder Urban-Gardening-Flächen ist von ihr in urbanen Räumen nicht mehr viel | |
| sichtbar. Zugleich wurde ein [1][Distanzverhältnis des Menschen zur Natur] | |
| konstruiert, das einst Vernunft getauft wurde, mit der man sich die Natur | |
| vom Leib halten und aus dem Bewusstsein verdrängen kann. | |
| Beim Spazieren durch Berlin denken womöglich wenige daran, dass sich unter | |
| dem Asphalt mal eine Sumpflandschaft befand. Dass „Berl“, der Ursprung des | |
| Wortes Berlin, aus dem Sorbischen stammt und Sumpf bedeutet. Dass man beim | |
| Warten in der Schnelltestschlange ohne den Asphalt ziemlich schnell nasse | |
| Füße bekommen und im Boden einsinken würde. | |
| Solche mentalen Zeitsprünge drängen sich auf nach dem Besuch der | |
| audiovisuellen Installation „Berl-Berl“ des dänischen Künstlers Jakob Kud… | |
| Steensen in der Halle am Berghain. Sie ist von ebenjener Tatsache | |
| inspiriert, dass die Hauptstadt auf eine Sumpflandschaft gebaut ist, die | |
| von einem 10.000 Jahre alten Gletschertal geformt und im 18. Jahrhundert | |
| trockengelegt wurde. Vielleicht ist das eingebildete Einsinken auf dem | |
| Bürgersteig ein passendes, wenn auch an den Haaren herbeigezogenes Bild für | |
| den aktuellen Trend zu audiovisuellen Kunstformen – [2][ist doch Immersion | |
| seit einigen Jahren Buzzword der Stunde] – derzeit wohl auch, weil | |
| Konzerthäuser und Clubs geschlossen sind oder nur langsam wieder den | |
| Betrieb aufnehmen. Oder, wie im Fall des Berghains, in Kunstorte verwandelt | |
| wurden. | |
| ## Pflanzen, Steine, Wolken | |
| In der dortigen Halle steht im Zentrum der in Kooperation mit der Plattform | |
| LAS entstandenen und von Emma Enderby kuratierten Installation eine Art | |
| Triptychon. In deren Mitte steht eine Leinwand in Kinogröße, flankiert von | |
| zwei kleineren Bildschirmen. Sie zeigen, wie die anderen auf zwei | |
| Stockwerken verteilten Bildschirme, animierte Filme einer Sumpflandschaft | |
| im Spreewald. | |
| Das Quellmaterial stammt von Tausenden Fotos, die der Künstler bei | |
| Wanderungen und Kanufahrten geschossen hat, um sie im Studio in 3-D-Modelle | |
| umzuwandeln und zu bearbeiten. Er sei dabei oft regelrecht herumgekrochen | |
| und habe auch einzelne Steine oder Pflanzen aus etlichen Perspektiven | |
| abgelichtet, erklärt Steensen bei der Eröffnung im Hemd mit Botanik-Design. | |
| Die Pflanzen, Steine, Wolken und Uferlandschaften sind mal in Nahaufnahmen, | |
| mal aus weiter Entfernung zu sehen, in einer Ästhetik, die an Videospiele | |
| erinnert. Gelegentlich tauchen Falter auf, die von Modellen realer Tiere | |
| aus dem Berliner Naturkundemuseum stammen, mit dem Steensen | |
| zusammengearbeitet hat. | |
| Von Wissenschaftlern erfuhr er auch von den vielen Mythen, die seit | |
| Jahrhunderten Berlins und Brandenburgs Landschaften umwehen – und ihn zum | |
| Beispiel dazu inspiriert haben, die Baumwurzeln manchmal wie Schlangenhäute | |
| aussehen zu lassen. Eine Lexikonrecherche verrät, dass Schlangen im | |
| Spreewald den Sagen zufolge für Schutz und Sicherheit sorgten. | |
| Steensens multimediales Prinzip umfasst neben Fotos und Texten vor allem | |
| auch Klänge. Nicht nur das zu Sehende ist in eine Art Collage geformt, auch | |
| der Soundtrack besteht aus einem Mix aus synthetischen und natürlichen | |
| Sounds. Zu hören sind zum einen Vogel- und Tierklänge aus dem Tonarchiv des | |
| Naturkundemuseums, zum anderen synthetische Sounds und die Musik von Matt | |
| McCorkle und [3][der Sängerin Arca]. Deren helle Gesangsstimme schwebt | |
| immer wieder durch die weitläufige Halle – und springt durch die Reflexion | |
| der Betonwände ständig hin und her. | |
| Alles miteinander verbunden | |
| Die in der Halle verteilten, teilweise meterhoch hängenden Boxen, die | |
| Bildschirme, das von ihnen ausgehende Licht, all das bildet eine eigene | |
| Ökologie. Alles scheint miteinander verbunden zu sein. Eine auf Künstlicher | |
| Intelligenz basierende Software sorgt dafür, dass Bild und Ton ständig in | |
| Bewegung sind, ohne sich zu wiederholen. Das führt einerseits zu einer | |
| recht authentischen Darstellung des Natürlichen. Andererseits kann es, weil | |
| alles sehr auf Immersion gebürstet ist, nach einiger Zeit auch einlullen. | |
| Würden die Pflanzen nicht zwischendurch ihre Form verlieren und in kleine | |
| Pixel zerfallen oder die Musik mal plötzlich aufwallen, könnte das schnell | |
| kitschig wirken. Nun mag Kitsch als Produkt des Sentimentalen nicht per se | |
| schlecht sein, doch führt es gerade in der Kunst oft dazu, dem Gegenstand | |
| keinen Raum für Interpretation zu lassen. Was bei Projekten mit dem Sujet | |
| Natur oft dazu führt, selbige als absoluten Wert zu überhöhen. | |
| Genau das machen Steensen und sein Team nicht. Ihnen gelingt eine | |
| beeindruckende Ästhetisierung dessen, was trotz Klimawandel bis heute eher | |
| nur in Konferenzen oder Galerietexten diskutiert wird: Menschen und Natur, | |
| Objekt und Subjekt, nicht mehr getrennt voneinander zu betrachten, sondern | |
| als komplexen Superorganismus. | |
| Nun kommt es darauf an, das kurze Gefühl der Ergriffenheit nicht am Ausgang | |
| der Halle abzugeben, sondern es hineinzutragen in die Welt draußen. Und | |
| vielleicht beim nächsten Stadtspaziergang darüber nachzudenken, was da mal | |
| gewesen sein könnte, und ob das, was davon übrig ist, nicht vielleicht wert | |
| wäre, erhalten zu werden. | |
| 18 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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