# taz.de -- Ausstellung im Berliner Stadtraum: In der Haut eines Insekts | |
> Krähen füttern, Unkraut wässern: Die Ausstellung „(re)connecting earth“ | |
> propagiert einen neuen Umgang mit der urbanen Flora und Fauna. | |
Bild: Im VR-Erlebnis von The Swan Collective kann man sich in ein Insekt einfü… | |
Wann haben Sie zuletzt etwas gegossen, was keine Topfpflanze war? Eine | |
Pflanze, die weder aus dem Baumarkt noch aus dem Blumenladen kommt? Im | |
schrecklich heißen und trockenen Sommer vor zwei Jahren habe ich manchmal | |
einen sichtlich leidenden Baum vor meinem Fenster gegossen. Dazu habe ich | |
zwei Plastikfaschen und eine Gießkanne gefüllt, bin zu dem Baum | |
runtergegangen, der schon Ende Juni seine Blätter verlor, als wäre es | |
Oktober, und habe dem Wasser dabei zugeschaut, wie es in alle Richtungen | |
davonfloss, statt in den sandigen Boden zu sickern. | |
Vergangenen Samstag hat der Künstler Adrien Missika Unkraut gegossen. Er | |
goss Unkraut in Kleingärten an der Gaußstraße, es war aber jede*r auf dem | |
Planeten Erde eingeladen, es ihm gleichzutun: „Nimm eine Gießkanne (oder | |
Ähnliches); Fülle sie mit Wasser; gehe hinaus auf die Straße; gehe einen | |
Weg entlang; gieße alle durstigen Unkräuter; fülle Wasser nach, wo immer du | |
kannst; mach weiter, bis du müde oder hungrig bist.“ Dabei sollte man sich | |
am besten fotografieren oder filmen und die Bilder auf sozialen Medien | |
teilen. | |
Die Aktion „Unkrautpflege“ gehört zu der Ausstellung „(re)connecting | |
earth“. Sie findet derzeit in verschiedenen Teilen Berlins in verschiedenen | |
Formen statt und wird von art-werk organisiert, einem Verein zur „Förderung | |
und Verbreitung von Kunst mit sozialökologischen Themenschwerpunkt“. Kern | |
von „(re)connecting earth“ sind Plakate von 16 Künstler*innen, die sich mit | |
Themen der Ökologie auseinandersetzen. Auf ihnen stehen Anleitungen, die | |
die Betrachtenden und potenziell Ausführenden des Kunstwerks auffordern, | |
Krähen zu füttern, wie zum Beispiel bei [1][David Horvitz], und zwar | |
montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags, samstags und | |
sonntags. | |
Plakate in Kreuzberg | |
Die von den Künstler*innen gestalteten Plakate wurden in der letzten | |
Woche in Straßen Kreuzbergs aufgehängt, im Kunstraum Kurt-Kurt in Moabit | |
kuratiert und in einem Kleingartenverein in Charlottenburg aufgestellt – | |
da, wo Adrien Missika zur Eröffnung Unkraut goss. | |
Mit ihrem anleitenden Charakter zur Ausführung bestimmter Aktionen in | |
bestimmter Reihenfolge stellen sich die Werke in die Tradition von | |
Konzeptkunst und Fluxus aus den 1960er Jahren. Wenn Antje Majewski uns, die | |
Betrachtenden, in ihrem Plakatbeitrag auffordert, dem „Weißen Gänsefuß“ | |
einen neuen Namen zu geben, dann führen wir ihr Werk aus, wenn wir ihn | |
stattdessen „Gemeiner Parasit“ nennen. Das ist nicht unbedingt schöner, | |
aber wenigstens haben wir uns mit dem Charakter der Pflanze | |
auseinandergesetzt, und ihr dadurch etwas mehr Bedeutung beigemessen. Denn | |
darum geht es der Ausstellung „(re)connecting earth“: die Sensibilisierung | |
von (Stadt-)Menschen für die sie umgebende urbane Natur. Und das | |
funktioniert nur über das Bewusstwerden von deren Bedeutung für uns, unsere | |
Stadt, unser Klima, unseren Planeten. | |
Adrien Missika fordert in seinem Plakatbeitrag dazu auf, den Bäumen in der | |
eigenen Straße einen Namen zu geben. Zheng Bo schlägt vor, mit Stift und | |
Papier zu spazieren und Gräser und Unkraut zu zeichnen, bevor man die | |
Zeichnung anschließend vergräbt und kompostieren lässt. Simone Zauggs | |
Beitrag hat den Titel „Green Collection“. Mit dem Smartphone soll man im | |
alltäglichen Stadtleben kleine und große Pflanzen finden, fotografieren und | |
ordnen. „Adjektive, die wir der Stadt, dem Urbanen zuordnen, sind: grau, | |
schnell, laut, hoch, dicht, uniform, verschmutzt, hektisch, dynamisch, | |
kommunikativ etc.“, heißt es. Durch das Herausfiltern der Naturfetzen | |
zwischen all diesen Adjektiven entsteht eine grüne Collage auf dem Handy, | |
ein kleines (virtuelles) Erholungsgebiet, das als konstantes „Sich der | |
Natur bewusst machen“ dienen kann. | |
Protest der Insekten | |
Im Ausstellungsraum Kurt-Kurt kommen zu den Plakaten drei weitere | |
Kunstwerke hinzu. Unter anderem ein Virtual Reality-Werk von The Swan | |
Collective, in dem man, setzt man die Brille auf, in die Haut eines Insekts | |
schlüpft, immer mit baumelnden Fühlern im oberen Blickfeld. Im Verlauf des | |
VR-Erlebnisses wohnt man einem Protest einer Insektendemonstrantin gegen | |
die menschliche Geringschätzung gegenüber ihrer Art bei. Sie prangert | |
[2][das immer öfter verlautbarte Vorhaben an, das die zukünftige Ernährung | |
der wachsenden Weltbevölkerung garantieren könnte, und das auch noch | |
proteinreich: Insekten essen]. Das Schlimmste daran sei das Ausbleiben | |
ethischer Bedenken, es handele sich ja schließlich nur um Viehzeug. | |
Ich kann nicht umhin, mich in der Rolle eines Kindes zu fühlen, dem erklärt | |
wird, dass auch der gemeine Löwenzahn eine Pflanze ist, die man | |
wertschätzen sollte. Alle Pflanzen sind gleich. Alle Pflanzen sind wichtig. | |
Aber letztendlich stimmt es wohl, dass wir tatsächlich an diesem Punkt | |
anfangen müssen, Wertschätzung gegenüber (urbaner) Natur wieder zu erlernen | |
und so der „Krise der Sensibilität“, wie der Kurator Bernard Vienat | |
erklärt, entgegenzuwirken. Mit kunstpädagogischer Unterstützung. | |
Regenwälder werden gerodet, die Waldbrandsaison fängt bald wieder an und | |
wir gießen das Unkraut an der Straßenecke. Doch irgendwo muss es ja | |
beginnen. Und wenn zum Unkrautgießen auch noch Entscheidungen wie die des | |
Bundesverfassungsgerichts vom 29. April dazukommen, die den Klimaschutz als | |
Grundrecht auslegen, umso besser. | |
Am Ende der Eröffnung erzählt eine Frau auf dem Bürgersteig vor dem | |
Kunstraum, sie habe den Namen, die sie ihrem Baum gegeben hat, wieder | |
vergessen. Tja, was das wohl über unsere Sensibilität sagt. | |
18 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Marlene Militz | |
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