# taz.de -- Kunstparcours in Berlin-Charlottenburg: Vom Finden und Staunen | |
> Das genüssliche Promenieren und die Konflikte des öffentlichen Raums | |
> thematisiert der Kunstspaziergang „Balade“ mit vielen visuellen | |
> Irritationen. | |
Bild: Jumana Manna, Old Bread, 2021, im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf | |
BERLIN taz | Vielleicht hat sich in keinem Teil der Stadt das | |
Spazierengehen so eingeschrieben wie in Charlottenburg – und damit auch die | |
gesellschaftlichen Verhältnisse. Da gibt es das namensgebende Schloss mit | |
seinem Barockgarten, in dem einst nur die Adligen öffentlich den müßigen | |
Gang pflegen konnten. Da gibt es den Boulevard des Kurfürstendamms, wo sich | |
im späten 19. Jahrhundert die Privilegierten der nun Wilhelminischen Ära in | |
pompösen Appartements niederließen und unten an den Boutiquen | |
vorbeiflanierten. Promenieren und Konsum bildete hier an Berlins westlicher | |
Flaniermeile eine eigene Kultur der bürgerlichen Repräsentation. | |
Das bezeugt bis heute die „Ku’damm-Vitrine“, die als eigener | |
Architekturtypus den Kurfürstendamm in 300-facher Ausführung säumt und | |
schon deshalb das Display für die Ausstellung „Westen!“ im Museum | |
Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim bildet. Und nun liegen | |
oben auf dem Balkon der klassizistischen Villa, in die bis 1911 die | |
deutschjüdische Bankiersfamilie Oppenheim in die Sommerfrische fuhr, ganz | |
andere Fundstücke eines Spaziergangs: vermeintliches Brot, zerkleinert, | |
zerdrückt, angeschimmelt, angefressen. | |
Die Künstlerin Jumana Manna hat mit diesem Keramikbrot eine Tradition der | |
Straße aus islamisch geprägten Ländern auf den großbürgerlichen Berliner | |
Balkon geholt. Liefe man durch Şanlıurfa oder Istanbul, fände man an jeder | |
Ecke solch Überreste von Mahlzeiten, die die Menschen symbolisch anderen | |
überlassen – aber letztlich der Verrottung. Auf dem Balkon der | |
Charlottenburger Villa werden die grün befleckten Fladen zu einer | |
Zeichenverschiebung in dem wohl geordneten Raumsetting eines öffentlichen | |
Museums. | |
## Vier Kilometer im alten Westen | |
Keramikbrote als kleine Irritation während des Spaziergangs, als | |
Einblendung in das gesetzte Bild des öffentlichen Raums, die einen gewahr | |
werden lässt, wo man gerade überhaupt ist: Jumana Munnas Installation ist | |
eine von neun künstlerischen Arbeiten, die Liberty Adrien und Carina Bukuts | |
für ihren seit Samstag eröffneten Ausstellungsparcours „Balade“ | |
kuratierten. | |
„Balade“ ist ein Spaziergang („faire une balade“ auf Französisch) und … | |
Hymne auf Charlottenburg. Wie Flaneusen besingen und kommentieren die zwei | |
Kuratorinnen mit einem vier Kilometer langen Kunstparcours die Straßen, | |
Bauten und Menschen dieses alten Berliner Westens, der mit seinem | |
Kranzler-Eck, seinem Ku’damm, seinen Hotels, Kinos und Cafés in den letzten | |
30 Jahren selbstgenügsam den Umwälzungen des sonstigen Berlins trotzte. | |
Vor dem Grand Hotel Savoy, in dem der Champagner schon wegen des aus den | |
1950er Jahren erhaltenen Interieurs so delikat staubig schmeckt (wenn es | |
nicht, wie jetzt gerade, saniert wird), hängen nun Fahnen von Studio Pandan | |
mit den kontrastrierend ramschigen Motiven von Strandtüchern. | |
Zwei Litfaßsäulen ließen [1][Slavs and Tartars] gänzlich mit ihren | |
„Pickletits“ plakatieren. Schon von der Kantstraße aus ist sichtbar, wie | |
aus den Sauergurken in Form großer Brüste Muttermilch tropft. Und vor der | |
Festung des Rathauses Charlottenburg in seinem Jugendstil düsterster | |
Ausprägung konnte Bettina Pousttchi wohl nicht anders, als auf bunte Töne | |
zurückzugreifen: Vor der archaischen Architektur lässt sie eine Fahne mit | |
vergrößerten Farbverläufen der Regenbogenflagge hinter dem Muster des als | |
typisch deutsch geltenden Fachwerks wehen, und stellt mit diesem Print auf | |
Stoff gleich auf mehreren Ebenen die Frage nach Repräsentation und | |
Identifikation. | |
Das genüssliche Promenieren durch die Stadt lässt auch die Konflikte des | |
öffentlichen Raums gewahr werden. „Unsere Städte sind in Stein, Ziegel, | |
Glas und Beton gemeißeltes Patriarchat“, formulierte 1996 die feministische | |
Geografin Jane Darke, die Adrien und Bukuts auch in ihrem Programmheft | |
zitieren. | |
## Queere und schwarze Körper | |
Und so blenden die beiden Kuratorinnen in ihren Spaziergang immer wieder | |
die Perspektive derjenigen ein, die auch auf den Charlottenburger Straßen | |
nicht immer gesehen werden: Jimmy Robert inszeniert auf der großen Leinwand | |
im Delphi Filmpalast queere und schwarze Körper in langsamen Bewegungen vor | |
dem Bukarester Volkspalast. Mit ihren Zeichnungen auf den Fenstern von | |
Werner Düttmanns Verkehrsinsel gibt Christine Sun Kim den schnellen Takt | |
des Ku’damms an. Die Künstlerin ist taub, wohlbemerkt. | |
Dennoch bleibt dieser Kunstspaziergang durch Charlottenburg ganz sommerlich | |
leichtfüßig. Er führt schließlich zu so schön unentdeckten Orten wie der | |
Abgusssammlung oder der Kleinen Orangerie am Schloss Charlottenburg. Hier, | |
wo eigentlich die Orangenbäume des Schlossparks überwintern, macht Willem | |
de Rooij das leise und gleichsam glorreiche Finale des gut dreistündigen | |
Spaziergangs durch den Westen: ein vier Meter hohes Bouquet aus trockenen | |
Palmblättern. Die Blätter sind das Abfallprodukt aus verschiedenen | |
botanischen Gärten. Ursprünglich aus den entferntesten Winkeln der Welt | |
stammend, entfalten sie noch einmal eine künstliche Pracht der | |
domestizierten Natur. | |
13 Jul 2021 | |
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[1] https://slavsandtatars.com/about | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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