# taz.de -- Ausstellung „Landscape and Urban Living“: Die Kraft des Künstl… | |
> Die Kieler Stadtgalerie zeigt, wie aktuelle Videokunst mit Natur umgeht. | |
> Dabei werden verborgene Seiten der Welt sichtbar – und Urängste | |
> aktiviert. | |
Bild: Die Wellen sind künstlich, machen aber Angst vorm Ertrinken: Clemens Wit… | |
Man sieht gleich: Da stimmt was nicht. Wie die blauschwarzen Wellen auf der | |
Leinwand da vor uns sich brechen, wie sie sich wieder aufbauen und auf | |
einen zurollen – das ist doch nicht echt. Aber was, wenn es doch echt wäre? | |
Wie lange würde man noch leben in diesen Wasserwirbeln? Wie schnell würde | |
es gehen, bis man noch ein-, zwei-, vielleicht sogar dreimal kurz | |
auftaucht, bewegungsunfähig von der Panik, die einen gepackt hat? | |
Das malt man sich so aus, im Trockenen, im Erdgeschoss des Neuen Rathauses | |
an der Andreas-Gayk-Straße nicht unweit des Kieler Hauptbahnhofes, das im | |
hinteren Teil die Kieler Stadtgalerie füllt. Doch geht es unter die | |
Wasserlinie, ins Dunkle. Dann zerlegen sich die aufsteigenden Luftblasen in | |
einen Pixel-Strudel, als stimme etwas mit der Projektion nicht, als | |
ruckelte das Programm kurz. | |
Aber reicht das Wissen um die mutmaßliche Konstruktion des zu Sehenden, um | |
uns davor zu schützen, eine der Urängste von uns Menschen nachzuerleben? | |
Also zu ertrinken, fassungslos unterzugehen, so allein, wie man nur allein | |
sein kann, so sein Leben zu verlieren, irgendwo da draußen im unbegrenzten | |
und sich immer wieder aufbauenden Meer. | |
„Lieben“, heißt konsequenterweise die Arbeit von Clemens Wittkowski, ein | |
Video-Loop von gerade mal sieben Minuten und sieben Sekunden; es fühlt sich | |
nach weit mehr an. Gefertigt, also entwickelt und realisiert allein am PC | |
und damit am Bildschirm, also künstlich durch und durch – wenn man noch | |
darauf besteht, dass es die echte und dass es die künstliche Welt gibt und | |
dass sie unterscheidbar bleiben. Dazu hört man einen Mann und eine Frau | |
Satzfetzen wie „Lieben leben“ oder „Lieben lassen“ rufen – Nina Petri… | |
Stephan Schad haben den beiden Unbekannten ihre Stimmen geliehen. | |
„Internationale Videokunst zur Urbanisierung von Landschaft“, lautet etwas | |
sperrig, weil unnötig trocken, der dazugehörige Titel der | |
Sammelausstellung, zu dem Wittkowskis Werk gehört. Zusammengestellt hat sie | |
der Hamburger Kurator und Kunstkritiker Claus Friede. Ihn hat der Weg | |
unserer Landschaftswahrnehmungen in die aktuelle visuelle Kunst | |
beschäftigt, und er hat dazu in den vergangenen Jahren Kompetentes und also | |
Sehenswertes zusammengetragen. | |
Da ist etwa die Arbeit „Pickled long cucumber“ (also: „Eingelegte, lange | |
Gurke“) der lettischen Künstlerin Katrina Neiburga, die sich mit Mann und | |
Kind in eine moorige Waldgegend begeben hat, wo sie mal durch den Sumpf | |
streifen, mal auch versuchen, sich etwas zu Essen zuzubereiten (eine | |
Gurke!), was jeweils wie seltsam ritualhaft anmutet. Unterlegt ist alles | |
mit einem feinen Techno-Sound, der durch die Räume wabert. | |
Sehenswert auch die dreiteilige Videoinstallation „Huglaeg Rými“ (etwa: | |
„Subjektiver Raum“) von Ólafur Sveinn Gíslason, die uns in den Süden | |
Islands lockt. Dort lebt er in vermeintlicher Ruhe und kreativer | |
Einsamkeit. Dort lernte er seinen Nachbarn kennen, einen Bauern, der ihm | |
vom Mühsal der Landarbeit, aber auch von der Eingebundenheit in die | |
Kreisläufe der Landschaft und der Natur erzählte. | |
Das spricht er auch im Video, begleitet von vier Männern in | |
Isländer-Pullovern, seltsam verzögert nach. Eine komische wie auch kluge | |
Auseinandersetzung mit dem Genre der engagierten Filmdokumentation, wo doch | |
heute niemand mehr sicher sein kann, ob die uns dort zu Herzen gehenden | |
Protagonisten am Ende nicht doch gecastet wurden und nun in bester Absicht | |
eben ihr Spiel spielen. | |
Schön ist aber auch, dass Stadtgalerie-Kurator Sönke Kniphals es nicht nur | |
bei der reinen Übernahme der Fried'schen Ausstellung belassen hat. Er hat | |
sie sehr sinnvoll um zwei lokale Positionen ergänzt. | |
Da wäre zum einen die Arbeit „Aurora“ von Gor Margaryan, der ursprünglich | |
aus Armenien stammt, der dort aufwuchs, bis ihn das Kunststudium an die | |
Kieler Muthesius lockte, wo er blieb und wo er derzeit die Videowerkstatt | |
leitet. Er nimmt uns mit auf einer Schlittenfahrt via Motormobil durch den | |
vereisten Norden Russlands. Und wir sitzen zuschauend mit an Bord, lassen | |
uns den eisigen Wind um die Nase wehen. Was für uns exotisch ist, ist für | |
die dortigen Menschen nichts anderes als der Weg, um von A nach B zu | |
kommen. | |
In Kiel studiert hat auch Wibke Rahn, Medizin, war aber auch Gasthörerin an | |
der Muthesius, fand später zum Kunststudium nach Halle, heute hat sie ihr | |
Atelier im Kunstrefugium der alten Leipziger Tapetenfabrik. Doch nun ist | |
sie mal wieder vorbeigekommen und bietet mit „Vanishing point“ (also: | |
„Fluchtpunkt“) einen 24-Stunden-Live-Stream und bricht damit aus der | |
strengen Ordnung der Loops aus. | |
Dazu ist sie auf das Dach der Stadtgalerie geklettert, hat eine Kamera | |
installiert, hat sie fördewärts ausgerichtet, so dass wir nun auf das | |
Gelände der einstigen HDW-Werft schauen können. Vor gut zehn Jahren wurde | |
sie in „ThyssenKrupp Marine Systems“ umbenannt und spezialisierte sich auf | |
den Bau von Kriegs-U-Booten, was im einst kriegszerstörten Kiel jeder weiß, | |
worüber man aber nach wie vor ungern spricht. Umrahmt ist das Bild, dass | |
uns Rahn auf dem Display bietet, von einer ganz eigenen Industrielandschaft | |
einer abgewrackten Werft: gefertigt aus Pappmaché plus U-Boot-Modell, | |
erworben bei Ebay. | |
Und wir schauen über diese Trümmer hinweg auf eine seltsame, wie | |
eingefrorene Szenerie, sehen Stillstand, bis doch irgendwo ein Hafenkran | |
sich kurz dreht oder eine Fähre für Momente die Blickachse kreuzt. Die | |
Welt, sie zeigt uns ihre verborgenen Seiten, man muss nur jeweils genau und | |
lange genug schauen. | |
20 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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