# taz.de -- Biennale in Genf: Könnte auch auf Netflix laufen | |
> Was heißt es, inmitten der Technosphäre Mensch zu sein? Bei der Biennale | |
> de l’Image en mouvement in Genf sucht die Videokunst nach Antworten. | |
Bild: DIS, Everything But the World, 2021, installationsansicht im Centre d'Art… | |
Mit dem Schauerroman [1][„Frankenstein“ schrieb Mary Shelley] eine Fabel | |
über ethische Grenzen der Wissenschaft, da war vom Menschen geschaffene | |
künstliche Intelligenz noch eine furchterregende Vision. Für die | |
Videoarbeit „Bluebot“ hat die junge Genfer Medienkünstlerin Giulia Essyad | |
den Stoff in eine matriarchalische Zukunft transferiert. | |
Frankenstein, die in einem Experiment geschaffene, Unheil anrichtende | |
Kreatur ist darin nur noch ein niedlicher blauer Bot, den eine mit | |
Computerstimme sprechende Protagonistin zusammengesetzt hat, und dessen | |
Form an die Venus von Willendorf erinnert. Von Schauer keine Spur. | |
Essyads cyberfeministisches Werk ist eine von 15 größtenteils neu | |
produzierten Film- und Videoarbeiten, die nun bei der Biennale de l’Image | |
en Mouvement in Genf zu sehen sind. Dort also, wo Shelley ihren Roman vor | |
über 200 Jahren schrieb. Schon 1985 als Plattform für Videokunst gegründet, | |
präsentiert die Biennale heute alle zwei Jahre Neuproduktionen von | |
Künstler:innen, die Leiter Andrea Bellini gemeinsam mit eingeladenen | |
Kurator:innen ausgewählt hat. | |
Die aktuelle Ausgabe hat das New Yorker Kollektiv DIS gestaltet. In | |
Deutschland wurden Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro | |
vor allem durch die von [2][ihnen kuratierte 9. Berlin Biennale bekannt]. | |
Seit 2018 hosten sie dis.art, eine Streamingsite, auf der auch Arbeiten | |
einiger der in Genf zu sehenden Künstler:innen abrufbar sind. DIS zeigen | |
dort Kunst mit Bildungsanspruch als Netflix-ähnliches Erlebnis, wie sie es | |
selbst ausdrücken. | |
## Jede Arbeit hat ihr eigenes installatives Set-up | |
So ähnlich ließe sich auch der über drei Stockwerke des Centre d’Art | |
Contemporain Genève ausgedehnte Parcours beschreiben, zu dem DIS vor allem | |
US-amerikanische Künstler:innen aus ihrem Freundeskreis eingeladen | |
haben. Die Etagen des alten Fabrikgebäudes wurden abgedunkelt und in | |
einzelne Räume unterteilt: Jede Arbeit erhielt ein eigenes installatives | |
Set-up. | |
Essyads Film läuft auf einer Leinwand vor klassischer Kinobestuhlung, | |
während das Publikum vor DIS’ eigenem Beitrag auf Heizdecken unter | |
brummenden Ventilatoren Platz nimmt. Das Kollektiv produzierte für die | |
Biennale seinen ersten langen Film: „Everything but the World“ zeigt eine | |
Reisegruppe auf virtueller Erkundungstour in die Geschichte von Feminismus | |
und Hexerei. | |
Es gibt ein Drive-in-Fastfood-Restaurant, über dessen Sprechanlage | |
Kund:innen über Massentierhaltung im Spätkapitalismus belehrt werden, | |
eine Frau, die sich nackt durch eine wüstenartige Landschaft bewegt – all | |
das von der queeren Filmemacherin Leilah Weinraub, die als Radiosprecherin | |
auftritt, in eine rahmende Erzählung eingefasst. | |
Auch die weiteren Filme hangeln sich entlang der Themen aktueller | |
Kulturkritik. Wie sich der Mensch von seiner Natur entfernt, untersuchen | |
Hannah Black und Juliana Huxtable in dem ursprünglich für eine Performance | |
in New York geschriebenen Stück „Penumbra“. | |
## Gigantischer Glasturm voller Restaurants | |
Für die Biennale hat das New Yorker Kreativstudio And Or Forever es als | |
Animation adaptiert, in der Black (Anklägerin) und Huxtable (Verteidigerin) | |
nebst Tieren in einer inszenierten Gerichtsverhandlung auftreten, um die | |
Grenzen zwischen den Spezies zu demontieren. | |
In Will Benedicts und Steffen Jorgensens Scifi-Beitrag „The Restaurant“ – | |
die zweite Season einer Serie – hat sich die Zivilisation in einen | |
gigantischen Glasturm voller Restaurants zurückgezogen, der von einem | |
gerenderten Urwald umgeben ist. Während drinnen Gäste in einer absurden | |
Show über ihre Ess- und Kochgewohnheiten verhört werden, unterhalten sich | |
draußen humanoide Aliens fürs Radio über biologische Mikroorganismen. | |
Zentral ist in allen Arbeiten die Auseinandersetzung mit der Conditio | |
humana in der technologisch geprägten Gegenwart. Als künstlerisches Mittel | |
dient vielen die Post-Camp-Ästhetik, die der Medienkünstler Ryan Trecartin | |
in den 2010er Jahren prominent machte. | |
Susan Sontag schrieb 1964, als der Camp gerade aus dem queeren Underground | |
in den Mainstream drang: Sein Wesen sei die Liebe zum Unnatürlichen, zum | |
Künstlichen und zur Übertreibung. Trecartin ist zwar nicht mit einer | |
eigenen Arbeit vertreten, gehört aber zur DIS-Familie, die sich in | |
unterschiedlichen kollaborativen Projekten immer wieder trifft. So schnitt | |
Trecartin etwa auch die Filme von Essyad und DIS. In letzterem tritt er | |
auch auf. | |
## Campige Überzeichnung mit schnellen Schnitten | |
Campige Überzeichnung wird heute vor allem als mediale Form betrieben: | |
schnelle Schnitte, viele Effekte, poppige Soundcollagen. Oder in Genres wie | |
der „Slash Fiction“, die Lieblingsfiguren aus Fernsehen, Literatur oder | |
Geschichte in neue homoerotische Konstellationen einbettet. Davon sind auch | |
die Webserien der New Yorker Dramatikerinnen und Schauspielerinnen Emily | |
Allan und Leah Hennessey inspiriert. | |
In „Byron & Shelley: Illuminati Detectives“, einem Serienpiloten, nehmen | |
sie das Publikum mit in die 1810er Jahre am Genfer See, in denen die | |
Dichter Lord Byron (Hennessey) und Percy Shelley (Allan) sowie dessen | |
Geliebte Mary Godwin (spätere Shelley) dort gemeinsam ihre Sommer | |
verbrachten. So erfährt man dann übrigens auch, dass Mary Shelley die | |
Tochter der feministischen Vorkämpferin Mary Wollstonecraft war. | |
Patriarchalische Hybris, wie sie sich auch in Shelleys Frankenstein Bahn | |
bricht, als Ursprung allen Übels in einer Welt im kapitalistischen | |
Niedergang: So könnte man einen Tenor in die Schau hineinlesen. Nur bleibt | |
sie oft uneindeutig und flach in ihrer Kritik, die oft in jener medialen | |
Oberfläche verharrt, an der sich die Künstler:innen abarbeiten. | |
Dem Camp gestand Sontag zwar eine subversive Kraft zu, betonte aber, er sei | |
im Wesen apolitisch. Einen politischen Twist gibt die Autorin und | |
Instagram-Aktivistin Mandy Harris Williams der Post-Camp-Ästhetik. Für | |
„Couture Critiques“ greift sie Vorträge des postkolonialen Vordenkers | |
Edward Said aus den 1990er Jahren auf, in denen er sich mit der Rolle von | |
Intellektuellen für die Gesellschaft beschäftigt. | |
In einer Art performativen Lecture im MTV-Stil wirft sie Fragen nach | |
diskursiver Teilhabe in einer veränderten Medienrealität auf. Ihre | |
Botschaft: Ein bisschen mehr Pop, Glam und Camp würde der Theorie guttun. | |
30 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Frankenstein-am-Schauspiel-Hannover/!5805862 | |
[2] /9-Berlin-Biennale/!5306768 | |
## AUTOREN | |
Sabine Weier | |
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