# taz.de -- Elektro-Avantgarde: Die Transformerin | |
> Das Album „KiCk i“ der aus Venezuela stammenden Elektro-Produzentin und | |
> Björk-Gefährtin Arca kreist um Transformation. Aber kickt es auch? | |
Bild: Göttin 4.0 in halb nackt: Arca | |
Eins ist Alejandra Ghersi alias Arca, nunmehr offiziell nonbinäre Sie, | |
gewiss nicht: gewöhnlich. Bei ihr, die früher Alejandro war, sind nun alle | |
Grenzen fließend – egal ob es sich um Geschlechtsidentität, | |
Schönheitsideale oder eben Musik dreht. Das illustriert ihr viertes Album | |
„KiCk i“ perfekt. Die 30-Jährige steht für experimentelle Klänge. Da | |
verdichtet sich Kleinteiliges zu einem futuristischen Sound. Der Track | |
„KLK“ macht den Weg frei für Reggaeton und punktet mit einem Gastauftritt | |
der katalanischen Flamenco-Pop-Ikonoklastin Rosalía. | |
Bei „Rip the Slip“ treten Störgeräusche mit einer Micky-Maus-Stimme in | |
einen Wettstreit. Mal eher abstrakt, mal melodisch spielt Arca mit | |
verschiedenen Facetten des Elektro. „Afterwards“ schwingt sich dank Björks | |
feenhaftem Gesang fast schon in Popgefilde auf. Die Isländerin ist eine | |
alte Bekannte: Arca produzierte Björks Album „Utopia“. | |
Auch mit US-R&B-Star Frank Ocean und der Britin FKA twigs ging das | |
venezolanische Produzentenwunder ins Studio. Sie genießt aber nicht bloß | |
als Schöpferin von Beats einen außergewöhnlichen Ruf, sondern ist auch | |
optisch eine singuläre Erscheinung. Vermutlich hat die Exaltiertheit der | |
transsexuellen Diva die Model-Agentur Elite dazu bewogen, sie unter Vertrag | |
zu nehmen. Eine Laufbahn nur auf dem Catwalk stand für Arca aber nie zur | |
Debatte, dafür ist sie zu sehr Künstlerin. | |
Hinter ihrem „Nonbinary“-Video stecken viele Gedanken und Ideen. Man merkt | |
ihm an, dass Arca auch ein Faible für Malerei hat: Sie spielt ganz | |
offensichtlich auf Botticellis Gemälde „Die Geburt der Venus“ an, wenn sie | |
als fast nackte Göttin 4.0 auf High Heels in einer überdimensionalen | |
Muschel posiert. Gebrochen wird dieses Bild durch Roboterarme. So setzt | |
Arca bei der Frage an: Wo weicht die Trennlinie zwischen Mensch und | |
Maschine auf? Natürlich geht es genauso um das Ausmerzen dessen, was als | |
männliches oder weibliches Stereotyp eingestuft wird. | |
## Die Hölle für queere Heranwachsende | |
Nicht zufällig ist Transformation das zentrale Thema des Albums. Mit Blick | |
auf Körper und Geist. In den Arca-Songs ging es eigentlich schon immer um | |
die Suche nach dem wahren Ich. Die Musikerin, das merkt man ihr an, hatte | |
keine einfach Kindheit in Caracas. Damals hieß sie noch Alejandro Ghersi, | |
als Teenager musste sie ihre Homosexualität verstecken. | |
Gleichgeschlechtliche Liebe gehörte sich nicht, man war gefangen in | |
spießbürgerlich-konservativen Konventionen. Die Hölle für queere | |
Heranwachsende. | |
So weit, so schlecht. Wenigstens hatte Arca ihre Musik. Bereits mit 16 gab | |
sie als Nuuro Konzerte, ihre Mitschüler:innen bewunderten sie dafür. Sie | |
selbst denkt allerdings nicht mit einem stolzen Lächeln an diese Zeit | |
zurück. Ihre Lieder von damals waren ihr zu poppig, zu sehr auf den | |
Massengeschmack getrimmt. | |
Erst als sie für ein Musikstudium nach New York zog, kam sie sich selbst | |
ein gutes Stück näher. Sie hatte ihr Coming-out, sie machte musikalisch | |
keine faulen Kompromisse mehr, alles schrie nach einem Neustart. Also hob | |
sie ihr künstlerisches Alter Ego Arca aus der Taufe. Seither ist einiges | |
passiert. | |
Den größten Coup landete sie wahrscheinlich, als sie 2013 Kanye Wests Album | |
„Yeezus“ koproduzierte, auch wenn es sich als fürchterlicher Flop | |
entpuppte. Arca wohnte eine Weile in London, inzwischen ist es Barcelona. | |
Nach einer gefühlten Ewigkeit lernte sie sich einigermaßen mit ihrem | |
Anderssein zu arrangieren. | |
„Ich bin unglücklich“, sagte Arca kürzlich in einem Interview. Aber auch: | |
„Ich bin glücklicher.“ So ist das Lied „Nonbinary“ zwar leicht angedü… | |
aber nie vollkommen finster. Arca redet Tacheles. Gleich die erste Zeile, | |
„I do what I wanna do when I wanna do it“, vermittelt eine Idee davon, wie | |
sehr ihr Selbstbewusstsein gewachsen ist. Eines Tages wurde ihr klar, dass | |
in uns allen ein „Alien“ steckt. Der eine hat vielleicht einen Fetisch, die | |
andere schwört auf eine offene Beziehung. So etwas hängt man meist nicht an | |
die große Glocke. Dabei gehört Individualität nicht abgelehnt. Gerade für | |
Künstler*innen. | |
## Donnergrollende Wut | |
Arca hat keine Scheu, dekonstruierten Pop mit unkonventionellen Klängen zu | |
vermählen. Für sie selbst ist „KiCk i“ der Auftakt zu einer experimentell… | |
elektronischen Oper. Weitere Teile sollen folgen. Etwa ein Epilog mit | |
reinen Klavierkompositionen – ohne Gesang, ohne Effekte. Auch HipHop will | |
Arca unter die Lupe nehmen. Das gesamte Projekt bewegt sich entlang der | |
Grenze zwischen Yin und Yang. Mit dem Ziel, die Gegensätze Schritt für | |
Schritt zu einer Einheit zu vereinigen. | |
Ob Arca damit musikalisch unsterblich wird? Wer weiß. Auf jeden Fall ist es | |
spannend, die motivische Entfaltung ihrer Stücke zu verfolgen. Im | |
sphärischen „Time“ lässt sich beobachten, wie eine Kickdrum im | |
Viervierteltakt Arcas verschwommenen Gesang grundiert. „It’s time to let it | |
out / and show the world“, wispert sie. Stimme und Stimmung stehen | |
eindeutig im Rampenlicht. In „Riquiqui“ rappt Arca mal auf Englisch, mal | |
auf Spanisch. Da geht es um Ängste; Beats imitieren bedrohliche | |
Gewehrsalven. | |
Die Ballade „Calor“ mutet dagegen fast opernhaft-sakral an. Bei „Machote�… | |
ist alles im Fluss. Diese Nummer könnte sich genau wie das verhangen | |
groovende „No queda Nada“ mühelos in einen „Café del | |
Mar“-Kuschelambient-Sampler einfügen. „La Chiqui“ besinnt sich dagegen | |
wieder auf kantige Akkorde. Mit Hilfe von Feature-Gast Sophie raut Arca bei | |
diesem ruppigen Stück die musikalische Oberfläche auf. „Mequetrefe“ | |
entwickelt gar donnergrollende Wucht. | |
Gewiss ist: Diese Mischung aus Genrefusionen wirkt längst nicht mehr so | |
avantgardistisch wie früher. Dafür hat Arca mit „KiCk i“ tiefgründige Mu… | |
kreiert, die Mut macht und Hoffnung spendet für ungewisse Zeiten. Selbst | |
eigentlich melancholische Songs sind mit einer Power ausgestattet, die dem | |
Trübsinn ein Lächeln abringt. Wenn Arca singt: „Regenerated girl degenerate | |
to generate heat in the light“, erinnert sie ihre Zuhörer*innen daran, dass | |
es immer ein Licht am Ende des Tunnels gibt. Sie schöpft aus der Einkehr | |
die notwendige Kraft, um aus dem Leben das Maximale herauszuholen. | |
28 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Dagmar Leischow | |
## TAGS | |
elektronische Musik | |
Avantgarde | |
Björk | |
Venezuela | |
Barcelona | |
Konzert | |
Popmusik | |
Musik | |
Musik | |
Musik | |
Björk | |
Elektro | |
Björk | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Konzert von Rosalía in Berlin: Flamenco mit Motorrad | |
Der spanische Popstar Rosalía überzeugt bei seinem Konzert im ausverkauften | |
Berliner Velodrom am Sonntagabend mit einer Performance ohne Mätzchen. | |
Album „Fossora“ von Björk: Biologie und Techno | |
Genau zur Pilzsaison veröffentlicht die Björk mit „Fossora“ ein Album, das | |
sich mit der Liebe und mit Vergänglichkeit auseinandersetzt. | |
Album „Change“ von Anika: Popsongs mit V-Effekt | |
Das neue Album der deutsch-britischen Künstlerin Anika vereint Musikstile | |
von Folk bis Elektronik. Zudem betrauert es den Niedergang des liberalen | |
Englands. | |
Neues Album von Julianna Barwick: Selbstgespräch und Gottesdienst | |
Ganz zart, ganz hoch, manchmal etwas bedröppelt: Das neue Album der | |
US-Künstlerin Julianna Barwick „Healing Is a Miracle“ hört man am besten | |
alleine. | |
Neues Album von Denai Moore: Schluss mit kranken Machtgefällen! | |
Die Sängerin Denai Moore verwebt auf ihrem dritten Album „Modern Dread“ | |
clubaffine UK-Garage-House-Beats mit treibendem R&B. | |
Album „Utopia“ von Björk: In Zeiten von Hass Liebe predigen | |
Auf ihrem letzten Album verarbeitete die isländische Popsängerin Björk eine | |
Trennung. Auf „Utopia“ singt sie von Hoffnung und empowert Frauen. | |
Neues Album von Arca: Als würde jemand zuschlagen | |
Der venezolanische Elektroproduzent Arca kehrt mit einem brutal emotionalen | |
Album singend sein Innerstes nach außen. Ein Rat dazu kam von Björk. | |
Futuristische Elektrobeats: Von der Schöpfung der Mutanten | |
Was für ein Gesamtkunstwerk: Der venezolanische Produzent Arca und sein | |
mäanderndes neues Elektronik-Album „Mutant“. |