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# taz.de -- Neues Album von Julianna Barwick: Selbstgespräch und Gottesdienst
> Ganz zart, ganz hoch, manchmal etwas bedröppelt: Das neue Album der
> US-Künstlerin Julianna Barwick „Healing Is a Miracle“ hört man am besten
> alleine.
Bild: Abtauchen mit der US-Künstlerin Julianna Barwick
Die Heilung. Das Wunder. Julianna Barwick will es wissen und nutzt als
Titel für ihr neues Album [1][„Healing Is a Miracle“] gleich zwei
Buzzwords, die im geistlichen Kontext genauso präsent sind wie in
esoterischen Erzählungen. Doch zum Glück macht die Produzentin und
Sängerin, die in Louisiana, tief im Süden der USA, aufgewachsen ist, weder
christlichen Pop noch Neo-New-Age-Sound. Auch wenn man ihr neues Album
durchaus als Sound zur Meditation vereinnahmen könnte, weil es so
unglaublich einfach ist, ihm zu folgen, selbst wenn man beim Zuhören
zwischenzeitlich gedanklich abdriftet.
Textinhalte sind bei Barwick nebensächlich, aber das ist in Ordnung. Wenn
sie beim Auftaktsong „Inspirit“ immer wieder die Zeilen „Open your heart /
It’s in your head“ wiederholt, dann spielt es dabei gar keine Rolle, was
sie da gerade singt. Es geht darum, wie sie es singt, [2][es geht um die
Aura ihrer Stimme]. Denn die Stimme funktioniert bei Barwick als
Signalinstrument, die einzelnen Wörter wiederum funktionieren als
Variationen und Interpretationen dieses Instruments. Barwick nutzt einfache
Mittel für den maximalen Effekt ihrer auf den Klang fixierten Musik.
Barwicks Songs bestehen zum Großteil aus ihrer eigenen Stimme und stoisch
brummenden Bassfundamenten im Hintergrund, die alles zusammenhalten.
Barwick singt dann ganz zart, ganz hoch, manchmal etwas bedröppelt, dann
wieder verschlafen. Währenddessen sampelt und loopt sie sich und ihre
Stimme wieder und wieder. So entstehen mysteriöse Vocal-Drones, die sich
überlagern, gegenseitig ergänzen, verstärken, zerteilen, aufheben.
Der Hall und die Überlagerungen codieren schließlich die verknappten
Songtexte, sie sind kaum noch zu entschlüsseln. Oft sind es aber ohnehin
nur langgezogene Ahhhs, Ohhs und Uhhhs. Es ist dabei nie so ganz klar, ob
aus Barwicks Stimme Melancholie klingt oder ob sie absolute
Gleichgültigkeit transportiert. Der Trott, die vermeintliche
Gleichgültigkeit wird glücklicherweise auf dem kürzesten, aber intensivsten
Stück des Albums aufgebrochen. Auf „Flowers“ entwickelt sich die Bassline
zu einem Grollen, die Stimme Barwicks zu einem unerträglich hohen Schrei.
Die Emotionslosigkeit endet spätestens hier.
Das ideale Album für die Pandemie
Barwick erschafft schließlich, und das ist bezogen auf die Gegenwart
interessant, ihren eigenen Chor mit nur einem Mitglied: sie selbst. In
gewisser Weise ist „Healing Is a Miracle“ das ideale Album für die
Coronapandemie und die damit verbundenen Einschränkungen. Das liegt zum
einen an seiner Wirkung: Der Barwick-Sound provoziert In-sich-Gehen und
Mit-sich-allein-Sein. Barwick hat keine Social-Distancing-Music gemacht,
ihre Songs fordern keine Party und keine Gruppenbildung durch gemeinsame
Codes, auf die man sich beziehen könnte, zu denen man tanzen oder bei denen
man mitgrölen könnte.
Das Album zusammen mit anderen zu hören, ergäbe keinen Sinn. Barwicks Musik
funktioniert eher als Rückzugsort und als Aufforderung dazu, sich mit sich
selbst auseinanderzusetzen, runterzufahren, Selbstoptimierung und
Verwertungslogiken auszublenden und vielleicht sogar Selbstgespräche zu
führen. Wie gute Selbstgespräche funktionieren können, führt Barwick vor.
Auch die Arbeitsweise von Barwick, die sie schon seit ihrem Debütalbum
[3][„The Magic Place“ (2011)] verfolgt, also die durch Loop-Stations und
Effektgeräte unterstützte Arbeit mit Stimme, beweist, dass es nicht
zwangsläufig nötig ist, Musiker*innen und Backing-Vocalist*innen um sich zu
scharen, um Musik mit vielen Stimmen zu kreieren.
In einigen Momenten klingt „Healing Is a Miracle“ schließlich so, als sei
ein Kirchenchor vollzählig versammelt. Da ist es dann doch noch, das
[4][irgendwie Christliche] in Barwicks Musik, auf das der Titel schließen
lässt. Interessant wäre es ja, in der Kirche aufgrund von
Abstandsregelungen und Personenbeschränkungen auf den Chor zu verzichten
und sich stattdessen Barwicks Methoden zunutze zu machen. Vielleicht kämen
dann auch mehr junge Fans von elektronischer Musik zum Gottesdienst.
12 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=duw5ZCp4Qhk
[2] /Debuetalbum-von-Lyra-Pramuk/!5675876
[3] https://www.youtube.com/watch?v=PV5xmINm85o
[4] /Person//!5128186
## AUTOREN
Johann Voigt
## TAGS
Musik
Neues Album
Stimme
Musik
elektronische Musik
HipHop
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