| # taz.de -- Neuer Roman von Clemens Meyer: In der Welt der „Engel GmbH“ | |
| > Nun erscheint Clemens Meyers neues Werk „Im Stein“. In nüchterner | |
| > Alltagssprache befasst sich der Leipziger Autor mit der Sexindustrie im | |
| > Osten. | |
| Bild: Wann ziehen Leipzig, Dresden, Greifswald nach? Sex-Box in Zürich. | |
| Die Ränder umkreisen, die Mitte erklären. Eden City nennt einer der Luden | |
| jenen randständigen Ort, der hier das Zentrum der Handlungen bildet. Eden | |
| City ist die Stadt der Puffs, der Stundenhotels und Saunaclubs, die die | |
| Straßenzüge beherrschen; eine Stadt, in der der Gebrauchs- und Tauschwert | |
| von Oral- oder Analverkehr im Mittelpunkt stehen. | |
| „Im Stein“ heißt der neue Roman von Clemens Meyer, der im Rotlichtmilieu | |
| spielt. Die handelnden und erzählenden Figuren arbeiten selbst in der | |
| Sexindustrie oder sind mit ihr verwoben; der Umgang in der Branche wird in | |
| realistischem Erzählduktus geschildert. „Im Stein“ ist Meyers zweiter | |
| Roman. Der Autor, Jahrgang 1977, gilt seit seinem 2006 erschienenen Debüt | |
| „Als wir träumten“ als einer der großen Hoffnungen der jüngeren | |
| Literaturgeneration. | |
| Insbesondere, weil Meyer als einer der wenigen den Sound der Straße | |
| beherrscht – aus eigener Erfahrung, denn der Leipziger war selbst lang | |
| genug unterwegs mit Gangs in den Straßen seiner Heimatstadt. Sein neuer | |
| Roman liest sich nun fast wie sein erstes großes Hauptwerk – stilistisch | |
| avancierter, technisch vielfältiger, thematisch umfassender. Meyers Roman | |
| behandelt die Expansion der Sexindustrie in Ostdeutschland in den Jahren | |
| seit der Wende – in all ihren Ausmaßen, mit all ihren Praktiken, all ihren | |
| Abgründen. | |
| Dabei lässt Meyer Sexarbeiterinnen und Luden berichten, wie sie ins | |
| Geschäft gekommen sind und was sich seit dem Fall der Mauer und mit dem | |
| Eintreten des digitalen Zeitalters verändert hat. Meyer zeigt Prostitution | |
| zunächst in seiner nüchternen Alltäglichkeit, etwa in den | |
| Gedankenprotokollen von „Lilli“ oder „Mandy 2“, die ihre Arbeitstage mit | |
| den Freiern schildern. | |
| Er beschreibt, wie die „Engel GmbH“ – die wenig verfremdeten Hells Angels… | |
| oder Finanzbehörden von der Prostitution profitieren, in sie eingebunden | |
| sind; er stellt alle legalen und kriminellen Zweige dar. | |
| ## 400.000 Prostituierte in Deutschland | |
| Auch in den Passagen, in denen es um Kinder- und Zwangsprostitution geht, | |
| erzählt Meyer aus der Perspektive der Betroffenen. Eine Stelle beschreibt | |
| ein junges Mädchen, das sich wegträumt in eine Comicwelt, während ein Kunde | |
| der Sexmafia sie missbraucht. Eine harte, eine literarisch gelungene | |
| Passage. Der Autor versucht das Geschäft mit dem Sex nach der Neufassung | |
| des Prostitutionsgesetzes 2002 zu fassen. | |
| In Deutschland arbeiten heute nach Schätzungen der | |
| Prostituiertenorganisation Hydra etwa 400.000 Prostituierte, 95 Prozent | |
| davon sind Frauen. Die Zwangsprostitution ist dabei laut Bundeskriminalamt | |
| seit 2002 rückläufig. Auch die Debatte darum, was als Zwang definiert | |
| werden muss, wird im Roman geführt. | |
| Dass man sich wie im Rausch durch Meyers Roman liest, liegt zuvorderst an | |
| dessen großartiger Sprache, an den inneren Monologen und | |
| Bewusstseinsströmen, die das beschädigte Leben in Eden City adäquat | |
| wiedergeben. Meyer bewegt sich sprachlich sicher in dem „roten Kreis, wo | |
| alles miteinander verbunden ist, das Müllauto, die fette Frau, die Cola, | |
| die Viagras, die Blocker, Upper und Downer, […] das Recht auf sexuelle | |
| Selbstbestimmung, […] die Engel auf den Motorrädern, Torfmoose, | |
| Hochstraßen“. | |
| ## Hilbig, Fichte, Koeppen | |
| Die stilistischen Vorbilder reichen von den Werken des DDR-Schriftstellers | |
| Wolfgang Hilbig bis hin zum Beatautor Hubert Fichte. Einmal heißt es, | |
| „Tausende müde Tauben im vertrockneten Gras“ flatterten auf – in Teilen … | |
| „Im Stein“ im selben Stil wie Wolfgang Koeppens Montageroman „Tauben im | |
| Gras“ verfasst. | |
| Zu seinen Sujets kehrt Meyer immer wieder zurück, ohne dass dies zu | |
| konstruiert wirkt. Die Gifte zum Beispiel. Oder Disney. Oder das | |
| (titelgebende) Leitmotiv, das nach und nach sehr gekonnt eingeführt wird: | |
| „Und Mister Orpheus führt den Bohrer immer tiefer in den Stein. Da stößt | |
| man auf schwarzen Granit, hat ihm mal jemand gesagt.“ | |
| Seinen Figuren kommt Meyer zum Teil zu nahe. Im befremdlichsten Kapitel des | |
| Buches lassen die Luden Arnold „AK“ Kraushaar und Steffen nostalgisch ihr | |
| Leben Revue passieren – dass sie, die für die Härte des Geschäfts stehen, | |
| hier bisweilen sentimental gezeichnet werden, ist problematisch. | |
| „Im Stein“ ist dennoch ein großer, ein wichtiger Roman. Er weist erkennbar | |
| hinaus über den gesellschaftlichen Kosmos, in dem er spielt – als | |
| Wirtschaftszweig steht die Sexarbeit pars pro toto. Ein Kapitel ist etwa | |
| von Zitaten aus Marx’ „Kapital“ durchsetzt – das Zusammenspiel zwischen… | |
| Variablen in der Sexindustrie und den Marx’-schen Paradigmen funktioniert | |
| dabei. Clemens Meyer hat vor allem ein Buch über den Exzess und die | |
| Entgrenzung geschrieben. | |
| 22 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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