# taz.de -- Weltuntergang am Schauspielhaus Hamburg: Mensch, mach mal Pause | |
> In „Der lange Schlaf“ soll sich die Natur ihren Lebensraum zurückerobern. | |
> Regisseur Philipp Stölzl inszeniert diese Dystopie Finnegan Kruckemeyers. | |
Bild: Lina Beckmann und Mehmet Ateşçi sind als einzige wach, während die Wel… | |
Nichts tun. Stille. Vielleicht wäre das die Lösung und die letzte Ausfahrt | |
zur Rettung der Welt. Das zumindest ist Emilys Vision. Statt neuen | |
Lebensraum im Weltall zu suchen, müsse man die Menschheit mithilfe eines | |
Betäubungsgases für ein Jahr in einen „langen Schlaf“ versetzen. „Der l… | |
Schlaf“, so heißt Finnegan Kruckemeyers Stück, das [1][Philipp Stölzl] am | |
Hamburger Schauspielhaus als deutschsprachige Erstaufführung inszeniert | |
hat. | |
Wenn alle Menschen schliefen, so die These in dieser Dystopie, die im Jahr | |
2030 spielt, käme alle menschengemachte Umweltzerstörung zum Erliegen. Dann | |
hätte die Natur Zeit, sich ihren Lebensraum zurückzuerobern. | |
Doch Emily (Sandra Gerling) ist in Kruckemeyers Stück nur eine kleine | |
Regierungsreferentin, also eignet sich der cholerische Minister selbst | |
(Samuel Weiss) ihre Idee an, agitiert, propagiert und versetzt im Anschluss | |
an den ersten Akt dieses Weltuntergangsszenarios die ganze Menschheit in | |
ein künstliches Koma. | |
Die ganze Menschheit? Nein! Zwei mit unbeugsamen – weil im Labor | |
gezüchteten – Lungen ausgestattete Menschen leisten Widerstand. Irgendwas | |
muss ja im zweiten Akt passieren, mag sich der australische Erfolgsautor | |
gedacht haben. Irgendwer muss ja davon berichten, was während dieses | |
„Sabbatical für die Natur“ alles gelingt und was schiefgeht. Und damit es | |
zudem ein bisschen romantisch oder vielleicht sogar paradiesisch werden | |
kann, sind die beiden Wachgebliebenen ein Mann und eine Frau. Sie heißen | |
zum Glück nicht Adam und Eva, sondern Maggie und Pete. | |
## Dornröschenschlaf mit Folgen | |
[2][Lina Beckmann] und Mehmet Ateşçi spielen die beiden und machen aus der | |
vom Autor recht hinkonstruierten Begegnung eine großartige, zärtliche, | |
anrührende, wilde und fremdelnde Kennenlernszene zwischen Rotwein und | |
Rucksack, während derer in Filmeinspielern (Melwin Noe) fluffige Wolken | |
über leere Straßen ziehen und sich rote Ampellichter in autofreiem Asphalt | |
spiegeln. | |
Im dritten Akt erwacht die Menschheit wieder, sieht Vogel- und | |
Bienenschwärme, aber auch wilde Hunde, tote Kühe und verbrannte Menschen. | |
Der künstlich herbeigeführte Schlaf forderte seine Tribute. | |
Es gab Fluten in Nigeria und Waldbrände in Australien, es starben Freunde, | |
Verwandte, Kinder. Entsprechend umstritten ist ein weiterer Lockdown, den | |
Emily – inzwischen zur global agierenden Influencerin geshootet – | |
aufgekratzt mit „Stille ist potent. Stille ist mächtig“ bewirbt. | |
Kruckemeyers Text ist ein ziemlich ambitioniertes Stück Theater. Das nicht | |
nur die Klimakatastrophe weltumspannend – von Australien bis Argentinien – | |
verhandeln, sondern tief in seine Dutzend Figuren hineinschauen will. Sie | |
nahbar, ihre Handlungen nachvollziehbar machen will. Von Beziehungen und | |
Alltag erzählen will, von Technik und Forschung, von Einzelschicksalen, | |
Tod, Weltuntergang und Visionen. Von Eifersucht und Gier, von Größenwahn, | |
von Lügen und von Liebe. | |
## Wie schön ist der Weltuntergang? | |
Dem vielfach ausgezeichneten australischen Autor gelingt das – wie soll es | |
anders gehen? – in Form von Klischees: egomanischer Politiker, beflissener | |
Assistent, oberflächliche Moderatorin, ehrgeizige Referentin, sorgende | |
Mutter, liebevoller Vater und ein Kind voll unverstellter Weisheit. | |
Trotz dieser sehr schablonenhaften Setzung ist die Inszenierung – | |
streckenweise – sehenswert. In sechs von Neonröhren umrahmten Kuben | |
entwirft Philipp Stölzl feine, hochrealistische Miniaturen. | |
Schlaglichtartig und erzählerisch zugleich skizziert er Einblicke in | |
verschiedene Leben, mit einem Ensemble, das alles leistet, um zumindest ein | |
paar Figuren-Untiefen auszuloten. | |
Doch je länger der Abend andauert, desto mehr will er erklären, will nicht | |
nur erzählen, sondern auch schockieren. Immer wieder werden oberhalb des | |
Bühnengeschehens gestochen scharfe und allgegenwärtige Katastrophenbilder | |
eingeblendet, von Dürre und Plastikmüll, Fluten und Bränden. | |
Sodass man sich bald fragt, ob man mit groben Klischees, großartigen | |
Schauspieler*innen, der stimmungsvollen Live-Musik (Tristan Breitenbach) | |
eines Streichquintetts und hochästhetischen Fotografien von | |
Umweltkatastrophen wirklich vom Weltuntergang erzählen kann. So als wäre | |
der eine schlichte, aber auch richtig schöne Sache. | |
23 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Regisseur-Stoelzl-ueber-Schachnovelle/!5798095 | |
[2] /Stuecke-ueber-selbstbestimmtes-Sterben/!5824126 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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