| # taz.de -- Theaterstück „Der staubige Regenbogen“: Wie ein riesiger Redeb… | |
| > In „Der staubige Regenbogen“ kritisierte Hans Henny Jahnn die Atomkraft. | |
| > Eine neue Inszenierung in Mainz verzichtet auf jedes dystopische | |
| > Potenzial. | |
| Bild: Leandra Enders und Lisa Eder in „Der staubige Regenbogen“ | |
| Ein Stöhnen geht durch den Raum. Es wird lauter, schneller, erinnert | |
| bereits an Hyperventilation. Dann öffnet sich der Vorhang im Staatstheater | |
| Mainz und zutage tritt eine seltsam organisch anmutende Szenerie aus | |
| rundlichen und schlauchartigen Formen, die sich im Laufe des Abends immer | |
| weiter aufblasen werden. | |
| Wo sind wir? In einer Art Mondlandschaft? Oder haben wir es bei dem | |
| geschwulstartigen Etwas mit einem Herzen und seinen Adern zu tun? So oder | |
| so erweist sich die stetig wachsende Kulisse samt den immer wiederkehrenden | |
| Atemgeräuschen als bedrohlich. Sie erzeugt mehr und mehr eine mithin den | |
| Figuren jedweden Raum nehmende Enge. | |
| Doch zu diesem Zeitpunkt ist schon nichts mehr zu retten. Wie der Frosch, | |
| der bekanntermaßen erst viel zu spät aus dem wärmer werdenden Wasser im | |
| Glas zu springen versucht, wähnen sich die Protagonisten in Hans Henny | |
| Jahnns letztem Theaterstück „Der staubige Regenbogen“ ([1][auch: „Die | |
| Trümmer des Gewissens“]) von 1959 allzu lange in einer unschuldigen Welt. | |
| ## Einsatz im Krieg | |
| Nachdem jedoch der Wissenschaftler Jacob Chervat (Andrea Quirbach) erfährt, | |
| dass seine Atomforschung inzwischen zu kriegerischen Zwecken eingesetzt | |
| werden soll, stellt sich eine Desillusionierung ein. Hinzu kommt eine | |
| persönliche Betroffenheit. Denn radioaktiv verseucht, bringt seine Frau | |
| (Max Kurth) ein geschädigtes Kind zur Welt, das, um es weiteren | |
| Experimenten zu entziehen, sogleich von ihr getötet wird. | |
| Widerstand formiert sich derweil in der jungen Generation. Sie steht für | |
| eine Ordnung der gleichwertigen Koexistenz von Mensch, Tier und Pflanzen. | |
| Doch kann eine Utopie in dieser frühapokalyptischen Gegenwart überhaupt | |
| noch Gehör finden? | |
| Eigentlich birgt dieses Werk sämtliche Potenziale für ein bildstarkes | |
| Bühnenfest samt schauspielerischer Volten und eine Menge ingeniöser | |
| Schlüsselsätze. Eigentlich gibt die radikale Kritik an einem | |
| selbstzerstörerischen Hyperfortschritt aus der Feder eines der | |
| Anti-Atom-Aktivisten der ersten Stunde unzählige Anknüpfungsmöglichkeiten | |
| an unsere gegenwärtige Angst vor einer nuklearen Eskalation her. | |
| ## Mensch als Krone der Schöpfung? | |
| Und eigentlich ließe sich viel aus der Epoche des Posthumanismus machen, | |
| die [2][Jahnn, der 1894 in Hamburg geborene Außenseiter der | |
| deutschsprachigen Literatur,] mit seiner Infragestellung des Menschen als | |
| Krone der Schöpfung luzide vorwegnahm. | |
| [3][Am Staatstheater Mainz] nutzt man diese Anlagen allerdings nicht. Statt | |
| die Handlung spannungsdramaturgisch zu entfalten, entscheidet sich die | |
| Regisseurin Rieke Süßkow für ein Nebeneinander der Szenen. Man wolle, so | |
| die Regisseurin im Programmheft, eine lineare Erzählung vermeiden, die | |
| immer Spuren des Patriarchats trüge. Aha, okay. Was gut klingt, erzeugt auf | |
| dem Parkett ein veritables Chaos. | |
| Ein Licht blinkt auf, Klänge von einem Cembalo oder einem Glockenspiel | |
| ertönen und Figuren mit steifen Bewegungen und teils expressionistischen | |
| Visagen, wie sie einem Fritz-Lang-Film entspringen, reden über Haarausfall, | |
| Geburten, Risikotechnologien, das Ende der Menschheit sowie Liebe und Lust. | |
| Alles irgendwie gleichzeitig, alles wie ein riesiger Redebrei ohne Akzent | |
| oder ein Moment des Aufhorchens. | |
| ## Verschenkte Drastik | |
| Das Pathos des Textes: verschenkt, seine Drastik: reduziert auf ein | |
| distanziertes Spiel der Darstellerinnen und Darsteller. Entstanden ist ein | |
| zähes Szenen- und Texttableau, wo doch eigentlich existenzielle Krisen und | |
| Abgründe, kurzum: die gesamte dystopische Energie unser aller Mark | |
| erschüttern könnte. | |
| Während die Regie also unglücklicherweise versucht, ein emotionales Drama | |
| ins Korsett des zeitgenössischen Diskurstheaters zu verfrachten, geht die | |
| einzige Bewegung des Abends von dem Bühnenbild aus. Gleich einem Geschwür | |
| baut es sich auf und zeugt von den Folgen der prometheischen Hybris, die | |
| Natur beherrschen zu wollen. | |
| Als die Figuren im letzten Teil dann doch noch kurzzeitig dynamische Züge | |
| offenbaren und sich – trotz der negativen Zukunftsaussichten – ihrem | |
| Fortpflanzungsbegehren hingeben, ist das meiste schon verloren. Gelb | |
| angeleuchtet, hat die atomare Kontamination jede und jeden, die nunmehr in | |
| bloßen Körperanzügen übereinander herfallen, erfasst. | |
| Klimawandel, die Letzte Generation, Putins Invasion – viele jener | |
| Debattenfetzen schwirren an diesem Abend durch die Luft, um sich sodann im | |
| nihilistischen Nowhere zu verflüchtigen. Gleichermaßen verpuffen | |
| schillernde Sätze wie „Ich bin durstig nach Hoffnung“ oder die kuriose Rede | |
| von der „hinkenden Erotik“. Gewahr werden wir einzig eines leeren Kosmos, | |
| so gefühlsarm und bizarr, dass selbst bei der monströsen Kulisse kaum mehr | |
| als ein fader Eindruck des Schauerlichen übrig bleibt. | |
| 20 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
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