| # taz.de -- Biograf über Literat Hans Henny Jahnn: „Ein Fest der Sprache“ | |
| > Hans Henny Jahnn ist heute kaum bekannter als bei seinem Tod vor 60 | |
| > Jahren. Dabei sei es ein Abenteuer, ihn zu lesen, sagt Biograf Jan | |
| > Bürger. | |
| Bild: Hans Henny Jahnn am 20. Juni 1956 bei der Verleihung des Lessing-Preises … | |
| taz: Herr Bürger, als Biograf hat man sich den Autor ausgesucht, mit dem | |
| man sich viele Jahre beschäftigt. Warum haben Sie sich Hans Henny Jahnn so | |
| intensiv gewidmet? | |
| Jan Bürger: Ich stieß auf Hans Henny Jahnn am Beginn meines Studiums in | |
| Hamburg, das ist bald 30 Jahre her. Damals hatte ich enge Kontakte zur | |
| freien Theaterszene und ich las genauso gern Stücke wie Romane, darunter | |
| Jahnns „Medea“, die 1927 im Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Mich | |
| faszinierte Jahnns Mut, mythologische Stoffe viel radikaler zu | |
| interpretieren als andere Autoren. Für mich wirkte „Medea“ damals wie die | |
| Tür zu einer anderen künstlerischen Wirklichkeit. Das klingt jetzt etwas | |
| pathetisch, aber mit Anfang 20 ist man gern pathetisch. Es war wohl vor | |
| allem Jahnns Ton, seine Sprachmelodie, die mich erwischt hat. Ein solches | |
| Deutsch kannte ich vorher nicht. | |
| Wenn Sie Jahnn „Maßlosigkeit“ zuschreiben, wie passt das zu dieser | |
| Radikalität? | |
| Jahnns forcierte Rhetorik, sein Sound – das hat oft auch etwas | |
| Übergriffiges. Seine Wort-Kaskaden können mitreißen, sie können dir aber | |
| auch den Atem nehmen. Vielleicht ist „transgressiv“ der richtige Ausdruck | |
| dafür. Jahnn überschreitet die Grenzen dessen, worüber wir normalerweise | |
| reden. Das ist seine Form von Tabulosigkeit. Dabei will er nicht | |
| schockieren. Vielmehr lässt er in der Kunst die gesellschaftlichen | |
| Übereinkünfte, die gängigen Maße außen vor. Insofern ist seine Maßlosigke… | |
| in erster Linie Vorurteilslosigkeit. | |
| Jahnn hat vorwiegend in Hamburg gewirkt – hat sich seit seinem Tod die | |
| Rezeption verändert? | |
| Ich finde, wir machen die Verbindung zwischen der Topographie unserer | |
| Städte und den Kunstwerken, die mit ihnen in Verbindung stehen, viel zu | |
| wenig sichtbar. Hamburg ist als Literaturstadt in ihren historischen | |
| Dimensionen nach wie vor zu entdecken, und das gilt auch für Jahnn. | |
| Zum Beispiel? | |
| In dessen „Fluß ohne Ufer“ finden sich eindrucksvolle Schilderungen von | |
| Stellingen, freilich eines ländliches Stellingen, das es schon lange nicht | |
| mehr gibt. Dort wohnte er als Kind. Zur Schule ging er in St. Pauli, in der | |
| Seilerstraße. Seine Pubertät verbrachte er im Schatten der Reeperbahn. Aber | |
| er interessierte sich offenbar nicht sehr für das Rotlichtmilieu, sondern | |
| vielmehr für die ethnische Vielfalt, die damals rund um den Hafen bereits | |
| zum Alltag gehörte. Auch für die Eisengießerei in der | |
| Simon-von-Utrecht-Straße, die Arbeiter und die Maschinen. Und natürlich | |
| für die Konzerthäuser am Spielbudenplatz. Hier hat sein Held, der später | |
| Komponist wird, seine musikalischen Initiationserlebnisse. Das alles | |
| könnte man mit einigen Tafeln in den Straßen lesbar machen. | |
| Sie schreiben, Jahnn sei heute kaum bekannter als im Jahr seines Todes. | |
| Woran liegt das? | |
| Es liegt wohl an seinem Werk: Wenn jemand konventionelle Maßstäbe und Tabus | |
| hinter sich lässt, macht er es seinem Publikum nicht leicht. Jahnns Bücher | |
| sind schwierig. Mit ihnen begibt man sich auf Leseabenteuer. Die meisten | |
| Leute wollen Abenteuer aber bekanntlich gar nicht selbst erleben, sondern | |
| nur Abenteuerfilme schauen. Ich glaube, die Klagen über die Verkanntheit | |
| von Künstlern sind sinnlos, wir sollten damit aufhören. Viel erstaunlicher | |
| ist doch, dass Jahnn seit seinem Debüt, also seit 100 Jahren, in jeder | |
| Generation Leser findet. Er war nie vergessen, und das hat wohl mit der | |
| Originalität und, ja, mit der Qualität vieler seiner Arbeiten zu tun. | |
| Dass Botho Strauß seinen Büchner-Preis 1990 nutzte, um zur Lektüre des | |
| Romans „Fluss ohne Ufer“ anzustiften – was hat dieser Impuls bewirkt? Zei… | |
| er nicht vielmehr, dass Jahnn ein Schriftsteller für Schriftsteller ist? | |
| Alle maßgeblichen Schriftsteller werden am intensivsten von Kollegen und | |
| anderen Künstlern wahrgenommen. Jahnn haben Paul Celan und Ingeborg | |
| Bachmann genauso intensiv gelesen wie die Komponisten Bernd Alois | |
| Zimmermann, Wolfgang Rihm oder Detlev Glanert. Strauß’ Aktion hat viel | |
| bewirkt. Wer weiß, vielleicht hätte ich damals nicht das Reclamheft mit der | |
| „Medea“ gekauft, wenn nicht so viele über das Preisgeld gesprochen hätten, | |
| das Strauß damals an Jahnn-Leser weitergab. Und ein paar Jahre später, | |
| 1994, wurde dann Jahnns 100. Geburtstag groß gefeiert, mit einer | |
| Ausstellung, einem Empfang im Rathaus, neuen Büchern. Ich sehe noch die | |
| leuchtenden und zugleich irritierten Augen von Jahnns Tochter an diesen | |
| Abenden. So etwas sollte sich Hamburg öfter mal gönnen. | |
| „Dieser Roman ist eine Lebensaufgabe“, schrieb Clemens Meyer über Jahnns | |
| „Fluss ohne Ufer“. Worin sehen Sie die Kraft dieses Buches? | |
| Es ist ein Fest der Sprache, und – besonders im zweiten Teil – eine Schule | |
| der Naturwahrnehmung. Wobei Jahnn zwischen Tieren, Pflanzen, Gesteinen und | |
| Menschen prinzipiell keinen Unterschied macht. Es geht ihm um die ganze | |
| Schöpfung. Und der Mensch wird von ihm als Teil dieser Schöpfung | |
| beschrieben, sein Seelenleben wird nicht anders behandelt als das wunderbar | |
| symmetrische Innere einer Blüte. Das ist Jahnns großes Experiment. | |
| Wie wäre eine Annäherung an Jahnn möglich, wenn jemand noch keine Zeile | |
| dieses Autors kennt? | |
| Es gibt eine Auswahl von Erzählungen, die eigentlich Teil seiner Romane | |
| sind. „13 nicht geheure Geschichten“ heißt das Buch. Hans Henny Jahnn hat | |
| diese Stücke selbst in den 50er Jahren zusammengestellt. Der Titel zeigt, | |
| dass Jahnn nichts gegen Spökenkiekerei hatte. Vielleicht ist das eine gute | |
| Einstiegsdroge. Und: Es schadet nicht, sich die Texte laut vorzulesen, so | |
| wie Gedichte oder Dramen. Sie klingen einfach gut. | |
| 3 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Frauke Hamann | |
| ## TAGS | |
| Hans Henny Jahnn | |
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