Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- INSZENIERUNG: Forschen am großen Umsonst
> Kurz vor seinem Tod schrieb Hans Henny Jahnn noch ein Art Bilanzstück:
> „Trümmer des Gewissens“ handelt von Wissenschaft und Macht, Sexualität
> und Revolte. Eine neue Inszenierung in Wilhelmshaven kann damit nicht
> viel anfangen
Bild: Thomas Marx wirkt wie erdrückt vom Gewicht Jahnnscher Wortwucht.
In seinem Roman „Versuch über die Pubertät“ erzählt Hubert Fichte von ei…
eigenartigen Schulbesuch. Ein Mann, der sich nicht vorstellt, bestellt
ausgewählte Schüler, sie sind 14, ins Direktorzimmer. Lässt sich von ihnen
Urinproben geben. Um aus der „innersekretorischen Beschaffenheit“ des
jugendlichen Harns Erkenntnisse über Begabungen und sexuelle Präferenzen zu
ermitteln. Denn in den Hormonen sei das Schicksal schon enthalten.
Im Buch, das auch ein Entwicklungsroman von Fichtes Homosexualität ist,
heißt der Mann, der sich nicht vorstellt, Werner Maria Pozzi – ein
literarisch verspiegeltes Portrait des Hamburger Schriftstellers,
Orgelbauers, Tierrechtlers und Atomgegners Hans Henny Jahnn. „Pozzi hat
meine Hormone in der Schweiz auszählen lassen und sagt: / Du bist
fifty-fifty! / Fifty androgen und fifty östrogen“, heißt es in Fichtes
Buch. 1949 waren sich der Schüler und Jungschauspieler Fichte und der
schillernde Außenseiter Jahnn begegnet. Bis zu Jahnns Tod 1959 – während er
an seinem gigantischen Prosa-Triptychon „Fluß ohne Ufer“ arbeitete –
blieben sie in eigentümlicher Freundschaft verwoben. Einer vertrackten
schwulen Übervater-Sohn-Kiste.
## Melancholisches Labor
In seinem letzten Lebensjahr schreibt Jahnn nochmal ein Theaterstück,
„Trümmer des Gewissens“. Ein melancholisches Labor, eine Forschung am und
im großen Umsonst. Mit den Worten „Nach fünftausend ekelhaften Resultaten
dies wunderbare Gelingen!“ betritt der Biologe Dr. Lambacher die Szene.
„Trümmer“ ist eben nicht das „Atomstück“, auf das es gern reduziert w…
Lambacher ist geradezu beseelt von einer Wissenschaft, deren Machbarkeit er
als Poesie wahrnimmt: „Sie haben sich gepaart, diese neuen Tiere. Sie sind
von der Sexualität genauso besessen, als hätte sie der Schöpfer gemacht.“
Gelegentlich erbittet er von einem jungen Mann „unzersetzten Harn, um
komplexe Hormone zu gewinnen“. Zwänge Regisseur Olaf Strieb Sebastian
Moskes Lambacher nicht in dieses Knallchargenkorsett des Mad Scientist, es
hätte etwas werden können. Hätte. Stattdessen steht am Ende einer
zweieinhalb Stunden langen Reihe solcher Konjunktive ein Theaterabend, der
mit dem Text (geschweige denn mit seinem schwulen Subtext) wenig anzufangen
weiß, der Situatives und Vielschichtiges ohne Not in eine well-made
Szenenfolge sortiert, der in seiner schauspielerischen Hilflosigkeit (man
möchte dem wild gestikulierenden Ensemble versuchsweise die Hände binden)
beklemmender ist als es die verschiebbaren bunkerbetongrau bemalten
Bühnenelemente je sein könnten.
Mit Lambachers Komplementärfigur des Kernphysikers Chervat geht es auch um
Nukleares, Atommeiler explodieren in der Ferne. Doch das kann nicht darüber
hinwegtäuschen, wie sehr „Trümmer des Gewissens“ für Jahnn ein bedrücke…
Bilanzstück ist, poetologisch und biografisch. Doch zu dem Punkt, dass
gerade das dezidiert Nicht-Neue des Jahnnschen Technikskeptizismus den
Unterschied zum schieren Aktualitätsstück ausmacht, dass das Bedrückende
des Textes im längst Gewussten liegt, dringt Strieb nicht vor.
Anders als es die Wilhelmshavener Inszenierung suggeriert, stellt Jahnns,
nun ja: Geschichte vom Physiker Chervat (unter dem poetischen Gewicht
Jahnnscher Diktion deutlich strauchelnd: Thomas Marx), der sich gegen jenen
Staat wendet, der ihm seine Forschungen ermöglicht und ihn nebst Frau und
Sohn in ein luxuriöses Forscherleben eingesperrt hat, nicht die erwachsenen
Forscher und Machthaber ins Zentrum, sondern deren Kinder. Ebenso
unhistorisch wie treffend könnte man bewundern, mit welcher Garstigkeit
Jahnn seinen Zentralwissenschaftler Chervat vorführt: als würde er seiner
Figur aus einem überengagierten Jugendbuch der 1970er soufflieren, müssen
es die Tausend Toten der Reaktorkatastrophe ebenso sein wie das
blindstummgefühllos geborene eigene Kind, um den Physiker auf den Weg der,
ja, was: Vernunft? zu bringen. Dazu, seinen Pakt mit dem Staat einseitig
aufzukündigen, der – was Wunder! – die Kernphysik auch unter
militärstrategischen Gesichtspunkten alimentiert.
## Letztes Glied der Kette
Derweil agiert der Jugendclub um Chervats Sohn Elia längst weiter und vor
allem endgültiger: „Es ist alles unsichtbar, was mit uns geschieht. Aber es
gibt eine wahrnehmbare Wirklichkeit“, sagt Elia (Benno Schulz verleiht ihm
bemerkenswerten poetischen Schliff). Die Jugendlichen in „Trümmer des
Gewissens“ plädieren angesichts des Äußersten – des potenziellen
Menschheitssuizids qua Fortschritt – für die nicht
heterosexuell-kleinfamiliär eingeengte Liebe in dieser Generation. Und den
konzertierten Verzicht auf die nächste. „Keiner von uns darf mehr sein
wollen als das letzte Glied einer Kette“, formuliert es Elias Freund Arran
(Metin Turan). Und weiter, mit Blick auf Jahnns zentrale
Schicksals-Kategorie: „Die dunklen Ströme fließen nicht weiter. Von fernher
wurde diese Vernichtung gegen uns ausgeschickt.“
Wie sehr ein solcher Satz sich der weiß-suprematistischen
Geburtenkontrollpolitik von Staatsträgern (und Chervat-Vorgesetzten)
annähert, geht in dieser Inszenierung ebenso verloren wie der Clou
versandet, dass Chervats „Tyrannenmord“ in Zeiten dialektischer
Aufgeklärtheit kaum mehr zurücklässt als einen Mückenstich am Systemkörper.
12 Mar 2013
## AUTOREN
Tim Schomacker
## TAGS
Politisches Theater
Hans Henny Jahnn
Theater
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theaterstück „Der staubige Regenbogen“: Wie ein riesiger Redebrei
In „Der staubige Regenbogen“ kritisierte Hans Henny Jahnn die Atomkraft.
Eine neue Inszenierung in Mainz verzichtet auf jedes dystopische Potenzial.
Biograf über Literat Hans Henny Jahnn: „Ein Fest der Sprache“
Hans Henny Jahnn ist heute kaum bekannter als bei seinem Tod vor 60 Jahren.
Dabei sei es ein Abenteuer, ihn zu lesen, sagt Biograf Jan Bürger.
Landesbühne wird „gemeinverständlich“: Ein Theater mit Potenzial
In der Peripherie so Theater machen wie in der Stadt: Das war Anspruch der
Landesbühne Niedersachsen Nord. Doch der neue Intendant will schlicht mehr
Zuschauer
Theater: Angst vor der eigenen Courage
Im Theaterprojekt "Schlicksoldaten" der Landesbühne Niedersachsen spielen
Marineangehörige sich selbst. Doch Regisseur Christof Meckel hat sich über
den Tisch ziehen lassen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.