# taz.de -- Inszenierung am Deutschen Theater Berlin: Sprechchöre und Klanginf… | |
> Ulrich Rasche zwingt „Leonce und Lena“ in eine brutale Tretmühle mühsam… | |
> Müßiggangs. Es ist vielleicht die schwärzeste Inszenierung des Jahres. | |
Bild: „Leonce und Lena“ in der Regie von Ulrich Rasche am Deutschen Theater… | |
Vielleicht ist jetzt einfach nicht die richtige Zeit, um Komödien zu | |
spielen. Jedenfalls nicht für Ulrich Rasche, der als Regisseur und | |
Bühnenbildner gerade eine Produktion unter dem Titel „Leonce und Lena“ auf | |
die Bühne des Deutschen Theaters gebracht hat. „Leonce und Lena“ ist die | |
einzige Komödie, die Georg Büchner je geschrieben hat. | |
Der junge Autor hoffte, mit der ins Absurde tendierenden Liebesgeschichte | |
zwischen einem depressiven Prinzen und einer melancholischen Prinzessin | |
einen Schreibwettbewerb zu gewinnen, denn er brauchte sehr dringend Geld. | |
Doch reichte er sein Manuskript so spät ein, dass er es ungeöffnet | |
zurückbekam. Zu Büchners Lebzeiten (er starb kein Jahr später, mit nur 23 | |
Jahren, an Typhus) wurde das Stück nie aufgeführt. | |
Erst 1895, fast sechzig Jahre nach seinem Tod, erfolgte die erste | |
praktische Umsetzung auf einer Bühne. – Ulrich Rasche nun benutzt Büchners | |
Komödientext als inhaltlichen Rahmen, innerhalb dessen auch ein „anderer“ | |
Büchner Platz findet: der sozialrevolutionär denkende Agitator, der mit dem | |
„Hessischen Landboten“ eine der radikalsten Schriften des Vormärz | |
verfasste. Passagen daraus sowie aus „Dantons Tod“ ergänzen den radikal | |
entkernten Komödientext um eine weitere inhaltliche Ebene. Dem | |
ursprünglichen Lustspiel aber ist alles Lustvolle ausgetrieben worden. | |
Vor ein paar Jahren machte Rasche mit einer ziemlich sensationellen | |
„Woyzeck“-Inszenierung Furore. In „Leonce und Lena“ nimmt er das dort | |
entwickelte Regiekonzept wieder auf. Im nachtschwarzen Raum dreht sich | |
unablässig die Drehbühne und wird ungefähr 170 Minuten lang nicht mehr | |
damit aufhören. Licht spendet ein mittig auf ihr befestigter, hoch | |
aufragender Gitterrost, an dessen Streben Leuchtstoffröhren befestigt sind, | |
die abwechselnd in verschiedenen Farben leuchten werden. | |
## Ewiges Gehen ohne Vorwärtskommen | |
Das Gitter selbst nimmt, je nach Neigungswinkel, mal die Anmutung eines | |
hoch aufragenden Flugzeugwracks oder Raumschifftrümmers an; dann wieder | |
neigt es sich so nah über die Erde, dass nur die Gestalt des unter sein | |
Kreuz gebeugten Jesus darunter zu fehlen scheint. | |
Eine Prozession ist hier jedenfalls im Gange, und das ist wörtlich zu | |
verstehen. Der Terminus „Müßiggang“, ein Zustand, den Prinz Leonce als | |
unerträglich beklagt, wird an diesem Abend in einem anderen als dem | |
herkömmlichen Wortsinne interpretiert. Es wird von allen Mitspielenden | |
unablässig gegangen – doch ihr Gehen ist müßig, also sinnlos, da es | |
nirgendwo hinführen wird. | |
Sie gehen und gehen und gehen den ganzen Abend lang im Kreis – und kommen | |
dabei oft kein bisschen vorwärts, denn der Boden unter ihren Füßen entzieht | |
sich ihnen. Einzig Almut Zilcher als König bleibt unbewegt, am Bühnenrand | |
außerhalb dieses Teufelskreises des unablässigen, sinnlosen „Müßiggangs“ | |
stehen. Der strunzdumme Monarch ist das einzige Überbleibsel der | |
ursprünglichen Komödie. | |
Leonce (Marcel Kohler) und Lena (Julia Windischbauer) sowie Leonces | |
Begleiter Valerio (Enno Trebs) sind nur drei von zahlreichen | |
schwarzgekleideten Gestalten, die langsam zu Fuß die Bühne umrunden. Oft | |
zieht es das ganze Ensemble druckvoll in eine Richtung, dann skandieren sie | |
zusammen, rhythmisiert und kraftvoll und doch wie mit ungeheurer Mühe, | |
gemeinsam ihre Texte, prangern die Willkür der Herrschenden an, beklagen | |
die Rechtlosigkeit der Armen, dann wieder die Sinnlosigkeit des eigenen | |
Daseins. | |
## Akustischer Tsunami durch elektronische Sounds | |
Diese Ensembleszenen, und darin liegt die größte Herausforderung bei der | |
Rezeption dieses Theaterabends, pflegen sich klanglich aufzubauen wie ein | |
akustischer Tsunami. Immer wieder wird es unerträglich laut. Die | |
Inszenierung wird musikalisch live begleitet von vier MusikerInnen, deren | |
elektronische Sounds den Puls des Geschehens bilden. | |
In jenen Momenten, da die Menschen auf der Bühne sich als skandierender, | |
marschierender Chor zusammengefunden haben, steigern sich Sprache und Musik | |
gemeinsam zu einem trommelfellzerfetzenden Inferno. (Das ist keine | |
Übertreibung. Wären die Ohrenstöpsel nicht gewesen, die an der Garderobe | |
ausgegeben werden, hätte auch die Rezensentin den Saal vorzeitig verlassen | |
müssen.) | |
Doch jedes Mal ziehen die Monsterschallwellen sich wieder zurück. In den | |
Dialogszenen, die zwischen die Massenauftritte geschnitten sind, ebbt die | |
klingende Grundbefindlichkeit ab auf ein moderates Doppelforte. | |
Am Ende kommt das Ensemble in hautfarbenen Nacktanzügen als mechanische | |
Puppen zur Hochzeit von Prinz und Prinzessin dahergestakst: Der Mensch, ein | |
seines Schicksals nicht mächtiger Automat, wird seiner Bestimmung | |
zugeführt. Es sind starke Schlussbilder einer sehr konsequenten, nicht | |
leicht zu goutierenden Inszenierung, die ihren Büchner in ziemlich eigener | |
Weise ernst nimmt. | |
22 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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