# taz.de -- Theaterkritik in der Krise: Nach Art des Hauses | |
> Die Theaterkritik läuft online schlecht und die Bühnenkünstler:innen | |
> schimpfen laut über sie. Ist sie deshalb tot? | |
Bild: Ein Tempel war vor kurzem im Gorki Theater Berlin im Stück „Bühnenbes… | |
Wenn Wandel Fahrt aufnimmt und Kräfteverhältnisse kippen, bilden sich rasch | |
zwei Lager. Die einen sagen, endlich, das Alte ist tot, das Neue regiert, | |
und zwar sofort! Sie geben die aktivistische Antwort, die Realität | |
beschwört, wo in Wahrheit noch viel Wunsch wohnt. Die konservative Antwort | |
lautet zuverlässig: Nein, nein, es ist alles wie immer, es sieht nur etwas | |
anders aus. Sie kommt genauso aus dem Reich des Idealismus wie die | |
aktivistische. Materialistisch ist keine der beiden, wie sich am Beispiel | |
der Diskussionen um die Rolle der Kulturkritik zeigen lässt, und zwar | |
insbesondere der guten alten Theaterkritik. | |
Dass die Theaterkritik ende, wussten im vergangenen Jahr gleich mehrere | |
Theaterschaffende. „Your time is up, Darling“, deine Zeit ist vorbei, | |
Schätzchen, rief ein Schauspieler und Neuregisseur einer Kritikerin auf | |
Facebook hinterher, die seine Arbeit nicht hinreichend würdigte. | |
Ein Regieteam ließ über das produzierende Festival verlauten, man „prüfe | |
rechtliche Schritte“ gegen ein Radiogespräch, in dessen Verlauf der | |
Kritiker den Theaterabend als „nicht state of the art“ bezeichnete. Dass | |
eine Theaterintendantin schon im Jahr zuvor im Radio berichtete, von vielen | |
Kritiken bleibe nur „die Scheiße am Ärmel der Kunst“ kleben, bestätigte … | |
Zerfallsthese. | |
Gleichzeitig erreichten uns aber auch Botschaften der Kontinuität. | |
Passenderweise kurz vor Weihnachten erschienen Texte von einem Ex-Kritiker, | |
der heute etwas Vernünftiges arbeitet, und von einem älteren Regiepromi, | |
die beide mit beruhigenden Analysen aufwarteten und sinngemäß sagten: | |
Schnickschnack, Kinder, es ist alles wie immer – im Theater sei immer | |
Krise, davon handle es, und die Kritik sei noch nie wohlgelitten gewesen. | |
Das sind die zwei Lager in der Rede über Theaterkritik. Einmal alles | |
vorbei, einmal alles wie immer. Ein Rückblick an einen Ort vor unserer Zeit | |
veranschaulicht, warum beide Lager nicht richtig, aber auch nicht ganz | |
falsch liegen. | |
## Kritik war Königsklasse | |
Mitte Dezember berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über ihren | |
Auszug aus den alten Redaktionsräumen und illustrierte den Text mit einem | |
Bild einer Feuilletonkonferenz von 1993. Es ist also schon numerisch | |
richtig, die Fotografie im letzten Jahrhundert zu datieren. Der | |
Vergangenheitsschock: Im Büro von FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest sitzen | |
ungefähr 18 Männer und eine Frau, ihr Kerngeschäft wie Königsklasse war die | |
Kritik, die Rezension. | |
Der berechtigte Reflex, an diesem Bild die Ungleichheit der Geschlechter zu | |
kritisieren, übertönt aber ein anderes Signal: Man sieht dieser Männerrunde | |
an, dass sie bequem im Sessel sitzt. Vor 12 Uhr musste niemand im Büro | |
sein, schrieb ein Ehemaliger in den sozialen Medien. Die Zeit war frei – | |
lesen, schwimmen, vielleicht sogar länger schlafen, [1][weil man nachts | |
interessante Leute traf, die nicht auf die Uhr schauten.] | |
Und auch wenn Leser:innenbriefe bestimmt ernst genommen wurden, gab es | |
keine Kommentarspalten und Userforen, deren größter Zweck zu sein scheint, | |
Journalist:innen zu erklären, dass sie a) keine Ahnung hätten und b) | |
nichts anderes zu erwarten war. | |
Die ins Auge springende Sicherheit des FAZ-Feuilletons kann man nun als | |
Zeichen vergangener Privilegien lesen, von männlicher (und weißer) | |
Dominanz. Daher kommt das Gelächter über dieses Bild in den sozialen | |
Medien. Ja, da sind wir heute weiter. Aber die Häme verdrängt auch einen | |
Rückschritt zur Gegenwart. | |
## Kritik als Crowdpleaser | |
Denn mindestens so schlimm wie das Geschlechterverhältnis wirkt das | |
Selbstbewusstsein dieser Runde attraktiv. Wie autoritär oder freiheitlich | |
das FAZ-Feuilleton von innen wirklich war, entzieht sich meiner Kenntnis. | |
Aber was das Bild vermittelt: Man dachte nicht gleich bei jedem Satz daran, | |
wie gut oder schlecht das in eine Insta-Kachel passt und ob der Text beim | |
richtigen Publikum gut ankommt. | |
Gemeint sind nicht Begriffe oder Worte, sensibilisierte Sprache ist | |
normaler Wandel, den es zwischen Generationen und Weltanschauungen zu | |
verhandeln gilt. Kritik heute heißt aber in vielen Fällen, zu antizipieren, | |
wie die Follower reagieren. Kritik als Crowdpleaser. Aus meiner Praxis: | |
Einige Redakteur:innen warnen regelmäßig vor den Kommentaren, wenn sie | |
etwas kontrovers finden. Ob das Demokratisierung bedeutet oder | |
Opportunismus und Streamlining zur Folge hat, das sind die großen Fragen | |
unserer Tage im Kulturkampf. Die Kritik als Textsorte steht da mittendrin. | |
Es steht außer Frage, dass die größte Medienrevolution seit Erfindung des | |
Buchdrucks auch die Theaterkritik verändert. Aber sie hat ihren Status | |
verloren als die feuilletonistische Kunst des Interdisziplinären (alles | |
spielt eine Rolle: Körper, Musik, Raum, Mode, nebst Schauspiel und Text). | |
Theater ist komplex, aber seine Kritik wird online nun einmal sehr schlecht | |
gelesen. Sich rituell darüber zu beklagen, dass die Theaterkritik | |
verschwinde, hat etwas Wohlfeiles: Wieso sollten Medienunternehmen in der | |
moralischen Pflicht stehen, im Überfluss anzubieten, was niemand richtig | |
haben will? Diesen Auftrag, das Kulturgut zu pflegen, erfüllen die | |
öffentlich-rechtlichen Radios. | |
## Kritik am Theater kommt aus den Häusern selbst | |
Auf Portalen wie nachtkritik.de rückt die Kritik in die Nähe eines | |
lebendigen betrieblichen Diskurses unter Nerds, als im gut subventionierten | |
deutschsprachigen Raum schöne große Nische mit vielen Kommentaren. | |
Noch nicht alle sehen das Ausmaß des Wandels derweil so historisch | |
hellsichtig und elegant [2][wie der 93-jährige Jürgen Habermas in seinem | |
jüngsten Essay, „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die | |
deliberative Politik“:] „Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern | |
gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen | |
Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“ | |
Wo viel und auch immer besser geschrieben wird, ist in den Theatern selbst. | |
Zum einen in den eigenen Publikationen – mal von den | |
Öffentlichkeitsabteilungen verfasst, mal von Agenturen und externen | |
Autor:innen. Zum andern kommt die härteste Kritik an den Häusern aus den | |
Häusern, als Kritik an der Institution. | |
Alle Gespräche mit Theaterleuten, die ich in den letzten drei Jahren off | |
und on the record über Machtmissbrauch, Sexismus und Rassismus führte, | |
waren komplexer als die große Mehrheit der Texte, die ich darüber las. Es | |
gibt in den Häusern eine Kultur der Kritik, der Beratung und der | |
Auseinandersetzung, die vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. | |
Während die klassische Kritik Rückzugsgefechte inszeniert und zum Beispiel | |
das „woke“ Theater für den Publikumsschwund verantwortlich macht, obwohl | |
die Zahlen, würde man sie denn recherchieren, das Argument nicht stützen, | |
schreitet die Kritik in den Institutionen nach vorne. Das ist keine Frage | |
des Charakters, sondern allein der Ressourcen. Die Theater sind sehr gut | |
durch die Pandemie gekommen, dank der öffentlichen Hand. Die privaten | |
Medien nicht so gut. Der Rest ist Rechnen. | |
3 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobi Müller | |
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