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# taz.de -- Dritter Band zur Theatergeschichte: Eloquenz und Fachkenntnis
> Günther Rühle hat das Theater im gesellschaftlichen Resonanzraum eng
> begleitet. Sein dritter Band zur Theatergeschichte behandelt die Jahre
> 1967-95.
Bild: Einar Schleef zeigte „Faust“ 1993 auf den Eingangsstufen des Schiller…
Dass deutsche Stadttheater-Strukturen tödlich sein können, erfährt man auf
Seite 169. Günther Rühle schreibt: „Am 19. 12. 1970 nahm sich Gerhard
Hirsch, der Geschäftsführer des Hamburger Schauspielhauses, das Leben. Auf
einem hinterlassenen Zettel stand: ‚Ich kann diese Charakterlosigkeit nicht
mehr ertragen.‘“ Eine Woche vorher hatte Hans Lietzau nach nur 13 Monaten
Intendanz seinen Vertrag „mit sofortiger Wirkung“ gekündigt.
Hirsch empfand es als charakterlos, dass Lietzau längst hinter den Kulissen
mit Boleslaw Barlog in Berlin verhandelt hatte, um als dessen Nachfolger
das Schiller-Theater zu leiten. Vorangegangen war eine öffentliche
Erklärung des Hamburger Senats, der Publikumsschwund und das Defizit von 1
Million DM anprangerte.
Günther Rühle, 1924 geboren, war einflussreicher Theaterkritiker, 10 Jahre
lang Feuilletonchef der FAZ und Theaterintendant in Frankfurt am Main. In
drei Bänden erzählt er Theatergeschichte. Seine „Theater in
Deutschland“-Reihe lebt von der Verortung des Theaters im Resonanzraum der
Gesellschaft und erzählt Geschichten von Theatermenschen, die mit dem
Bezugsrahmen, der den Theatern durch staatlichen Strukturen und
PolitikerInnen gesteckt wird, zurechtkommen müssen.
Rühle, vor gut einem Jahr mit 97 Jahren verstorben, konnte den letzten Band
seiner Trilogie nicht mehr zu Ende schreiben. „Theater in Deutschland
1967–1995“ blieb Fragment und wurde nun vom Dramaturgen Hermann Beil und
von Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Kunst der Akademie
der Künste Berlin, herausgegeben.
## Von Emilia Galotti bis Hamlet, von Kortner bis Wuttke
Rühle, der jahrzehntelange Theaterkritiker, strukturiert die 600 Seiten
Fließtext mit kurzen wie markanten Kapitelüberschriften. So übertitelt er
die Hamburger Theatertragödie: „Nein-Ja und die Kündigung“. Danach kommt
„Letztes von Fritz Kortner“. Rühle beschreibt hier Kortners besonderen
Zugang zu Lessings „Emilia Galotti“: „Der Leitbegriff Tugend war (für ih…
ein Abstraktum geworden.“ „Emilia Galotti“ sollte Kortners letzte
Inszenierung werden, für die er in seine Geburtsstadt Wien, ins Theater in
der Josefstadt, zurückkehrte.
Liest man sich ein in dieses Kapitel, läuft einem der 26-jährige Klaus
Maria Brandauer über den Weg, der den Prinz von Guastalla darstellte und
aus dessen Erinnerungen Rühle zitiert: „Kortner zertrümmerte Figuren um sie
präzise wieder zusammenzusetzen … Nur jetzt sah man die Sprünge.“
Brandauer kommt im Buch insgesamt vier Mal vor, [1][Martin Wuttke] zwölf
Mal. „Wer kann Hamlet?“, fragt Rühle in einer Überschrift und schreibt:
„Dieser Hamlet schlich sich lauernd durch das Gestrüpp der Handlung,
dauernd überfordert, gewann spürbar Sympathie. Wurde das Ereignis des
Abends. Er hieß Martin Wuttke. Es war eine Art von Bühnengeburt.“ Wir
schreiben das Jahr 1984 und sind in Frankfurt am Main.
Sucht man in der Rühle’schen Theatergeschichte nach bestimmten
SchauspielerInnen oder BühnenbildnerInnen, dann sollte man das Buch ganz
hinten aufschlagen beim Glossar. Liegt der Fokus dagegen auf einem
bestimmten Regisseur, Autor, Theaterstück oder Ort, dann wird man auch beim
Inhaltsverzeichnis fündig. Es ist mit den Kapitelüberschriften, die sich
auf diese vier Komponenten fokussieren, im Grunde die Twitter-Version des
ganzen Buches.
## Kulturpolitik und gesellschaftliche Reaktionen
So baut Rühle seine Theatergeschichte um die Menschen, damals fast nur
Männer, die Regie führen, um die großen deutschsprachigen Theaterhäuser in
BRD und DDR, Österreich und der Schweiz und um AutorInnen, die an den
wichtigen Theatern groß gemacht oder verdammt wurden. So beherrschen Heiner
Müller, [2][Thomas Bernhard], [3][Botho Strauss] und als weibliches Pendant
die wiederentdeckte Marieluise Fleißer die Theatererzählung.
Was die Regie betrifft, fokussiert Rühle besonders auf Peter Stein,
[4][Claus Peymann], Peter Zadek und ab den 80er Jahren auch auf Einar
Schleef (den Rühle als Intendant des Frankfurter Schauspiels fördert) und
[5][Frank Castorf]. In Ost-Berlin gilt Rühles Aufmerksamkeit dem Deutschen
Theater, dem Berliner Ensemble und der Volksbühne. Wenn man den Anspruch
hat, einen kompakten Überblick über dreißig Jahre geballte
Theatergeschichte in dem Land mit der höchsten Theaterdichte zu verfassen,
dann fällt einiges hinten runter.
So wird das Tanz- und Musiktheater nur gestreift und das Kinder- und
Jugendtheater überhaupt nicht erwähnt. Obwohl gerade das im Zuge der
68er-Bewegung überhaupt erst entstand ([6][Grips-Theater in West-Berlin])
und zu dieser Zeit in Ost-Berlin das Theater der Freundschaft mit Horst
Hawemann einen Regisseur hatte, der in einem restriktiven Staat bewusst die
Nische Kindertheater nutzte, um ästhetisch und inhaltlich anspruchsvolles
Theater zu machen.
Das ist aber auch der einzige Wermutstropfen. Beeindruckend ist nicht nur,
mit welcher Eloquenz und Fachkenntnis Rühle Rezension mit Analyse von
Kulturpolitik und Reaktionen im gesellschaftlichen Echoraum verbindet.
Essenziell ist der warme Grundton, der aus jedem seiner Sätze spricht und
von seiner Zuneigung zu den Menschen, die das Theater erschaffen, erzählt.
## Hintergrundwissen vorausgesetzt
Rühle rezensiert in seinem Epochen-Rückblick Inszenierungen, die er oft
selbst erlebt hat. Er beschreibt TheatermacherInnen, die er als Kritiker
begleitet hat. Er bespricht auch Arbeiten, die nicht funktioniert haben
(zum Beispiel „Trotzki im Exil“ von Peter Weiss).
Der Theaterkritiker und Intendant Rühle setzt ganz selbstverständlich
Hintergrundwissen voraus. Im Grunde ist sein Buch für ein Gegenüber
geschrieben. Liest man seine Beschreibung über Theater und DDR-Gesellschaft
Ende der 80er Jahre, bekommt man Schnappatmung, so spannend ist die
Lektüre.
Die elementare Rolle der Theater als Ersatzöffentlichkeit und ihre daraus
resultierende Vorreiterrolle im Herbst 1989 wird greifbar. Eine ganze
Gesellschaft, die ihre Fesseln lösen wollte, brauchte in diesem Moment die
Expertise und das Bewusstsein von Menschen, die Theater machen.
Im wiedervereinigten Berlin wird vier Jahre später das Schiller-Theater
geschlossen. Rühle beschreibt die Prozesse, die dazu führen, und
konstatiert: „Der Berliner Senat verlor alle Klagen der SchauspielerInnen,
von diesem Geld hätte das Theater noch zwei Spielzeiten weiter spielen
können.“
Schleef hatte seinen „Faust“ am Schillert-Theater fast zu Ende geprobt. Er
zeigte ihn am 16. 10. 1993 auf den Eingangsstufen des Theaters. „Hunderte
von Zuschauern standen vor dem dunklen Schiller-Theater,“ erinnert sich
Rühle. Vor ihnen stand Martin Wuttke. Er war Faust und Mephisto in
Personalunion.
12 Jan 2023
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## AUTOREN
Katja Kollmann
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