# taz.de -- Abdel-Maksoud und Schleef in München: In steter Grenzüberschreitu… | |
> An den Münchner Kammerspielen fühlen Nora Abdel-Maksoud und Marie Schleef | |
> mit ihren neuen Theaterinszenierungen der Gegenwart auf den Zahn. | |
Bild: Bühnenbild von Ji Hyung Nam für „Die Möglichkeit des Bösen“ von M… | |
In [1][Marie Schleefs] aktueller Inszenierung bohren sich Dornen durch die | |
angedeutete Fassade eines Hauses, in dem eine Rosenliebhaberin | |
Allmachtsfantasien entwickelt. In der neuen Produktion von [2][Nora | |
Abdel-Maksoud] schießt Wasser aus dem Bühnenboden und weitere Flüssigkeiten | |
rinnen diverse Hosenbeine hinab. Beide Abende sind dieser Tage an den | |
Münchner Kammerspielen herausgekommen. | |
Beide Regisseurinnen haben einen Sensor für soziale und körperliche | |
Grenzüberschreitungen, aber komplett unterschiedliche Methoden und Stile: | |
Schleef, Jahrgang 1990 und stets auf der Suche nach Texten von wenig | |
bekannten Frauen, orientiert sich in „Die Möglichkeit des Bösen“ an der | |
gleichnamigen Kurzgeschichte der US-Autorin Shirley Jackson. Abdel-Maksoud, | |
geboren 1983, hat sich wie immer ihre Stückvorlage selbst gezimmert. | |
Marke: knallige Social Comedy am Puls aktueller Diskurse, meist herrlich | |
politisch unkorrekt. „Doping“ heißt ihre neueste Wut-Geburt. Sie folgt in | |
München auf ihre Erfolgsproduktion „Jeeps“, worin eine von der regierenden | |
FDP angezettelte Erbschaftslotterie in einem Jobcenter etliche rasante | |
Wendepunkte nahm. In „Doping“ bleibt Abdel-Maksoud der FDP und ihren | |
ideologischen Sollbruchstellen dicht auf den Fersen. Ein Jungpolitiker hält | |
eine Rede vor der Geldelite auf Sylt. Und mitten in seinem glühenden Appell | |
pro Willensstärke und Eigenverantwortung lässt ihn sein Körper im Stich. | |
Denn Lütje Wesel, Spitzenkandidat des FDP-Ortsverbands | |
Wenningstedt-Braderup, ist inkontinent, sein stahlhartes | |
Entrepreneurshipimage ist gewissermaßen nicht ganz dicht. Und als auch das | |
vermeintliche Edelresort, in dem er behandelt werden soll, ein Leck | |
aufweist – die Außenhaut rostet, weil seine Partei das Gesundheitssystem | |
kaputtrationalisiert hat – ist der Schlamassel perfekt. | |
Vor allem, weil sich das Resort auf einem U-Boot befindet, das jetzt sinkt. | |
Auf diesem U-Boot, das eigentlich eine mobile Geburtenstation für die | |
Sylter ist, die so etwas nicht mehr haben, lässt Abdel-Maksoud das | |
sichtbare mit dem „unsichtbaren Wirtschaftssystem“ kollidieren, dem Feld | |
der unbezahlten Care-Arbeit. | |
## Opiumschnuller für Kids | |
Die Grundkonstellation ist großartig, die Einfälle sind es teilweise auch – | |
von der „Krankheitsnehmerin“, die für Geld allen ihre Leiden abnimmt, bis | |
zum „Mohnzutzler“ (Opiumschnuller für Kids arbeitender Eltern, nachdem alle | |
Kitas weggespart worden sind). Allein, die Gags sind so zahlreich und | |
schießen wie Querschläger umher, die man rasch aus den Augen verliert. | |
Auch schauspielerisch wirkt „Doping“ fahrig, oft unnötig laut und im | |
Vergleich zu „Jeeps“ verloren im größeren Raum. Selbst Wiebke Puls als Dr. | |
Bob, ein angeschickerter U-Boot-Pirat mit fettem Nordsee-Dialekt, der „vom | |
Stress zerfickte Körper ganz ohne Entspannung“ zu heilen verspricht. Das | |
Quäntchen Schmerz und Tragik, ohne das Komik bloß Klamauk ist, habe ich nur | |
bei Vincent Redetzki gespürt. | |
Alles ganz anders bei Marie Schleef. Mit Ausnahme von „Name Her“, der gut | |
siebenstündigen wortreichen Rehabilitation von der [3][Geschichtsschreibung | |
vergessener Frauen], mit der sie 2021 zum Theatertreffen eingeladen war, | |
sind ihre Arbeiten weitgehend stumm. Sie setzen auf Langsamkeit und | |
Atmosphärisches. | |
„Die Möglichkeit des Bösen“ ist darin so konsequent wie bestechend. Eine | |
Bühne in grellem Pink und Grün, auf der über einer dornenbewehrten Wand | |
eine blinzelnde Rose wacht: Textil-Skulpturales plus Projektionen machen’s | |
möglich, auch Ungesagtem und Gefühlen Raum zu geben. Die Menschen in Ji | |
Hyung Nams Pop-up-Bilderbuch bewegen sich in Zeitlupe durch diese | |
„Nahaufnahme eines heimlichen Vergnügens“, wie der Abend im Untertitel | |
heißt. | |
Alles ist minutiös durchchoreografiert bis hin zum Zücken des | |
Schweißtuches, mit dem sich [4][Walter Hess]’ Postbote die Stirn abwischt. | |
## Vorbeugende Selbstjustiz | |
Gar lieblich setzt die zierliche Miss Strangeworth von Johanna Eiworth | |
ihre Schritte, die aus Sorge um „ihre“ saubere kleine Stadt, in der ihre | |
Familie seit mehr als 100 Jahren lebt, zu einer Art vorbeugender | |
Selbstjustiz greift. Das Baby, das quäkt; die Frau, die sich „keine Mühe | |
mit ihrem Haar“ gibt: Derlei Kleinigkeiten sind der Rosenliebhaberin ein | |
Dorn im Auge. Darum schreibt sie anonyme Briefe, die alternative Fakten | |
über mögliche Affären und Erbschleichereien streuen. Denn: „Die Menschen | |
sind lüstern, böse und verkommen und müssen im Auge behalten werden.“ | |
Ein unheimlicher Soundtrack voller Wetter-, Atem- und schabender | |
Schreibgeräusche und einige spektakuläre Transformationen von Eiworths | |
Rosenkleidern (Kostüme: Teresa Vergho) machen den latenten Grusel komplett | |
und kreieren eine erhebliche Spannung, obwohl höchstens ein Dutzend Wörter | |
gesprochen werden. Nur die Geschichte hält nicht ganz, was diese Spannung | |
verspricht. | |
Die wenigen Sätze, die auf der grünen Wand eingeblendet werden, sind auch | |
sprachlich eher banal. Das Ende ist voraussehbar, der weibliche Troll | |
fliegt auf und erntet das Böse, das er im Keim ersticken wollte. Die Rache | |
ist kurz. Und zum Schlussapplaus gibt’s Rosenduft. | |
8 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Stueck-The-Mushroom-Queen-in-Hamburg/!5922212 | |
[2] /Komoedie-im-Gorki-Theater-Berlin/!5845080 | |
[3] /Vergessene-Autorinnen-der-Gruppe-47/!5996363 | |
[4] /Theaterstueck-ueber-deutsche-Schuld/!5972815 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
## TAGS | |
München | |
Theater | |
Schauspiel | |
Junges Theater | |
Rezension | |
Theater | |
Burgtheater Wien | |
Kolumne Kulturbeutel | |
Theater | |
Buch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Patty Kim Hamilton am Deutschen Theater: Dem Dorf zuhören | |
Das Deutsche Theater in Berlin hat ein neues Förderprogramm für Dramatik. | |
Die Autorin Patty Kim Hamilton reflektiert dort über geteilte Länder. | |
Theatertreffen Berlin 2024: Choreografie des Schreckens | |
Wo die Puppen tanzen, ist der Horror nicht weit. Porträt der Regisseurin | |
Rieke Süßkow, die mit einem Werner-Schwab-Drama zum Theatertreffen kommt. | |
Showkampf im Theater: Wrestling gegen Wohnungsnot | |
Beim Theaterfestival „Spielart“ in München wird auf der Bühne gekämpft. | |
Wrestler ringen als „kleine Leute“ und Immobilienhaie um die gerechte | |
Stadt. | |
Theatertreffen Berlin: Loblied auf das Bühnenbild | |
Es beginnt bei den Bildern, dann setzt das Denken ein: ein Rückblick auf | |
„Nora“ und „Bus nach Dachau“ beim diesjährigen Theatertreffen. | |
Dritter Band zur Theatergeschichte: Eloquenz und Fachkenntnis | |
Günther Rühle hat das Theater im gesellschaftlichen Resonanzraum eng | |
begleitet. Sein dritter Band zur Theatergeschichte behandelt die Jahre | |
1967-95. |