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# taz.de -- Theatertreffen Berlin 2024: Choreografie des Schreckens
> Wo die Puppen tanzen, ist der Horror nicht weit. Porträt der Regisseurin
> Rieke Süßkow, die mit einem Werner-Schwab-Drama zum Theatertreffen kommt.
Bild: Szene aus: Übergewichtig, unwichtig, Uniform
Es gibt gute Gründe, warum man sich eine Inszenierung von Rieke Süßkow
anschauen sollte. Erstens: das Bühnenbild. Marlene Lockemann und Mirjam
Stängl entwerfen für die 34-Jährige seit Langem Räume, die von
verblüffender Symbolkraft und spielerischem Witz sind.
So hat Lockemann für Süßkows „Elektra. Ein Familienalbum“ am Berliner
Ensemble ein Bühnenbild entworfen, das sich wie ein überdimensionales
3-D-Bilderbuch aufklappen lässt. Am Wiener Burgtheater entwickelte Mirjam
Stängl für [1][Süßkows Inszenierung von Handkes „Zwiegespräch“] eine
wandelbare Faltwand, ausgestattet mit den Eigenschaften einer
Ziehmarmonika, die das Immer-enger-Werden der Spiel- und Denkräume
plastisch werden ließ.
Stängl wurde dafür letztes Jahr beim Theatertreffen mit dem 3sat-Preis
ausgezeichnet. Die Bühnenbildnerin und ihre Regisseurin sind 2024 erneut
zum [2][Berliner Theatertreffen] eingeladen. Mit Werner Schwabs
„ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“, herausgekommen am Staatstheater Nürnber…
endet das Theatertreffen an Pfingsten.
## Auf der Bühne ist ein Mund
Diesmal stehen zwei Trampoline auf der Bühne, gut versteckt hinter einem
riesigen Mund, der fast den ganzen Raum ausfüllt. Immer wieder kommen von
oben herab gemalte Biergläser in den Raum zwischen den wulstigen Lippen.
Und eine lange Wurst. Sechs Leute halten sich in diesem Wirtshaus-Rachen
auf, einer davon steckt sich die Wurst in den Hintern. Das Bier saufen die
sechs im Gleichklang ex. Kippt eine der Spielfiguren nach hinten, trifft
sie auf das Trampolin, und hopp, schleudert es sie automatisch wieder hoch.
So ist der zweite Grund, sich eine Inszenierung von Rieke Süßkow anzusehen,
die besondere Körperlichkeit ihres Theaters. Bei „Elektra“ (2020) war sie
unter anderem inspiriert von der expressiven Körpersprache der Stummfilme,
bei „Medea“ (2019 Kampnagel, Hamburg) von der Plakat- und TV-Reklame der
1950er.
Durch bewusst formelhafte Bewegungssprache bekommen die Darstellenden bei
ihr etwas Puppenhaftes. In „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ gehen die
Schauspieler:innen eine Symbiose mit Sexpuppen ein, die sie sich vor
den Körper geschnallt haben. Sie erinnern auch an Schießbudenfiguren, und
ihre Bewegungen ruckeln wie die eines Automaten. Süßkow schafft es, extreme
Fremdbestimmtheit überzeugend über diese Körpersprache zu vermitteln.
## Jenseits der Sprache
Sie möchte damit für „etwas, das man mit Sprache nicht ausdrücken kann,
einen Ausdruck finden“. Dabei ging sie auch schon so weit, auf Sprache
vollständig zu verzichten, etwa in „Medea“ und „Elektra“. Das stumme
Theater entwickelt ein seltsam starkes Energiefeld, das vom kraftvollen
Zusammenspiel aus Bühnenbild, Bewegung und Livemusik erzeugt wird.
Ein dritter Grund, ihrem Theater zuzuschauen, liegt in den
spannend-verstörenden Live-Klangteppichen, die wie in einem Hörspiel an
Bewegungsabläufe der Spieler:innen gekoppelt sind. Der Sound will auf
keinen Fall Realität reproduzieren – was in diesen Bühnenbildern auch
unmöglich wäre –, sondern dient der zusätzlichen Verfremdung.
„ÜBERGEWICHT, unwichtig:UNFORM“ baut zusätzlich Werner Schwabs Sprache in
die durchgetakteten Bewegungsabläufe ein. Und die hat es in sich bei dem
Dichter, der für sich das Genre „Fäkaliendrama“ erfand.Was bei Rieke Sü�…
nicht geht, ist Improvisieren: Das Bewegungsrepertoire ist für jede Sekunde
vorgegeben. Dafür gibt sie den Zuschauer:Innen inhaltlich großen
Freiraum. Denn sie möchte explizit „Assoziationsräume eröffnen, die wir
Theatermacher nicht bestimmen können“.
## Sperrig und charmant
Der österreichische Autor Werner Schwab war 1994 mit nur 35 Jahren
gestorben. In seinen Dramen [3][wimmelt es nur so von Gehässigkeiten und
Obszönitäten]. Rieke Süßkow inszeniert seit gut zehn Jahren. Schwab hat
sie schon 2015 beschäftigt, als sie mit dem von ihr gegründeten Kollektiv
„nicht.THEATEREnsemble“ sein Stück „Volksvernichtung. Oder meine Leber i…
sinnlos“ auf die Bühne brachte.
In den mehr als 15 Inszenierungen, die sie bis jetzt verantwortete, hat sie
sich auf deutschsprachige Gegenwartsautori:Innen fokussiert. Zwei
Uraufführungen sind mit dabei und die Dramatisierung von Ferdinand Schmalz’
Debütroman „Mein Lieblingstier heißt Winter“. Süßkows Regiehandschrift …
sperrig und charmant zugleich. Und sie fordert, weil sie eingeübte
Sehgewohnheiten aufbricht.
Süßkow wurde direkt nach ihrem Hamburger Regiediplom ins Stadttheatersystem
übernommen und inszenierte zum Beispiel an den städtischen Bühnen
Osnabrück. Mit 33 gab die Regisseurin im Burgtheater ihr Debüt und wurde
zum Theatertreffen eingeladen. Mehr geht nicht im deutschsprachigen
Theaterkosmos. Der Olymp ist bestiegen und dann geht die Arbeit in den
Niederungen weiter.
Das Personal von „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ ist nicht nur boshaft,
sondern von Kannibalen durchsetzt, die zuerst als gewaltbereite
Gasthausbesucher auffallen. Es herrscht Gruselfaktor hoch zehn in den
Katakomben des deutschen Stadttheaters!
17 May 2024
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## AUTOREN
Katja Kollmann
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