# taz.de -- Theatertreffen in Berlin: Was bin ich ohne meinen Schmerz? | |
> Die Neuerfindung des Ichs führt bei mehreren Stücken des Berliner | |
> Theatertreffen ins Unglück. Eines davon ist „Die Vaterlosen“ von Jette | |
> Steckel. | |
Bild: „Extra Life“ von der Choreografin und Regisseurin Gisèle Vienne gast… | |
Eine Geschichte geht nur gut aus, wenn ich nicht darin vorkomme.“ Der | |
Dorfschullehrer Platonow weiß, wovon er spricht, als er diesen Satz sagt. | |
Chaos stiften, darin ist er gut, schon einen ganzen Abend lang. Jetzt | |
gerade lässt er sich, mit gespieltem Widerwillen, von der Generalin, einer | |
Witwe, die Kleider ausziehen. | |
Kurz zuvor versprach er der Braut ihres Sohnes, um Mitternacht mit ihr von | |
diesem Gut zu fliehen. Ein Neuer Mensch werden, ein Neues Leben beginnen, | |
das Vergangene von sich abstreifen: Warum nur erwarten sich das alle, | |
insbesondere die Frauen, von Platonow, dieser verkrachten Existenz, die ihr | |
eigenes Scheitern mit narzisstischer Lust zelebriert? | |
Platonow ist ein Ekel in der Inszenierung [1][der Regisseurin Jette | |
Steckel], die mit „Die Vaterlosen“, einer Tragikomödie von Anton Tschechow | |
aus den Kammerspielen München, [2][zum Theatertreffen nach Berlin] | |
eingeladen wurde. Mit boshaftem Witz streut er Salz in die Wunden der | |
anderen, versteckt unter falschen Komplimenten. | |
[3][Joachim Meyerhoff] spielt diese Rolle, als seien ihm diese Sottisen | |
gerade eingefallen, als improvisiere er auf der Bühne, gelegentlich auch | |
Zuschauer in seine Betrachtungen über den allgemeinen Verfall einbeziehend. | |
Und, nun ja, was soll man sagen? Man kriegt sich im Publikum im Haus der | |
Berliner Festspiele kaum ein beim Lachen und Kichern über diesen Zyniker | |
und seine Lust an der Beleidigung. | |
Hinter allem liegt Verzweiflung | |
An diesem Abend darf das Theater leicht und lustig sein, man weiß ja eh, | |
dass hinter allem die Verzweiflung liegt. Ändern können müsste man sich, | |
aber keiner schafft es. Wiebke Puls spielt die Generalin, die lebenshungrig | |
endlich aus diesem Dorf weg will, aber ohne Beruf und als Witwe sich das | |
nicht ohne Mann vorstellen kann. Und dabei scheint sie so schön und stark | |
und ihre Hilfsbedürftigkeit nur ein Irrtum. | |
Zwar ist der Abend mit über drei Stunden etwas lang. Aber trotzdem löst er | |
etwas ein, was man sich vom Theatertreffen erhofft: in Berlin großartige | |
Ensembles anderer Städte zu erleben. Einen Theaterklassiker in eine Sprache | |
übersetzt zu bekommen, die gerade erst auf der Straße aufgeschnappt worden | |
zu sein scheint. Mit kurzen Einsprengseln von Zweifeln, was den Sinn der | |
ganzen Unternehmung angeht. | |
Die Regisseurin Jette Steckel, 1982 in Berlin geboren, hat für ihre | |
Inszenierungen schon viele Auszeichnungen bekommen. In „Die Vaterlosen“ | |
lässt sie glänzen, was das Theater kann, und markiert auch, wo sich die | |
Kunst selbst ein wenig in die Tasche lügt. | |
Das Tief-in-den-Körpern-Vergrabene | |
Von ganz anderer Temperatur und anderem Temperament war „Extra Life“ von | |
der Choreografin und Regisseurin [4][Gisèle Vienne], eine Koproduktion | |
ihrer Company mit vielen Theaterhäusern und Festivals. Viennes Theater hat | |
etwas von einem therapeutischen Experiment. Sie erforscht eigene Wege, das | |
Nicht-Darstellbare, das Nicht-Erzählbare, das | |
Tief-in-den-Körpern-Vergrabene ahnen zu lassen. | |
„Extra Life“ gastierte im Hans-Otto-Theater in Potsdam. Ein Auto steht auf | |
der Bühne. Geschwister sitzen darin, reden nach einer Party. Anfangs ist es | |
der Text, in dem Verletzungen der Vergangenheit aufblitzen. Erklärungen für | |
Ausfälle und Suchtprobleme. Gab es einen übergriffigen Onkel, geht es um | |
Missbrauch in der Kindheit? | |
Bruder und Schwester hören im Radio eine Geschichte über Aliens. Warum ist | |
es leichter über Aliens zu reden, die Kinder rauben, als über die Täter in | |
der eigenen Familie? Das macht die junge Frau wütend, sie fühlt sich | |
alleingelassen. Das schält sich aus dem Gespräch heraus. Aber auch, wie | |
sich über das Erlittene andere Erzählungen wie Pflaster legen, | |
fantasievolle Ausweichmanöver. | |
Die Dialoge sind so etwas wie die Einflugschneise in eine Inszenierung, die | |
dann vor allem mit Körpersprache, mit Licht und Nebel, mit unheimlichen | |
Puppen und unheimlicher Musik von Störungen und Verschiebungen in der | |
Wahrnehmung erzählt. Vor allem in der Wahrnehmung des Selbst. Vom Verlust | |
von Selbstvertrauen und Selbstgewissheiten. Das hat etwas von einem | |
Horrortrip, einem extrem verlangsamten Fall. | |
An den Rändern des Theaters | |
Die Inszenierungen von Gisèle Vienne sind zwar mit vielen Festivals | |
verbandelt, zum Theatertreffen kam sie zum ersten Mal. Balancierend | |
zwischen Tanz, Performance und Sprache schillern ihre Stücke an den Rändern | |
des Theaters. Dort aber ist Vienne in der europäischen Szene gut etabliert. | |
Ein Fest der Lust am Spiel versprach „Riesenhaft in Mittelerde TM“ zu | |
werden, eine Abschiedssause, die sich [5][Nicolas Stemann] in seiner | |
letzten Spielzeit als Intendant am Schauspielhaus Zürich zusammen mit dem | |
[6][inklusiven Theater Hora aus Zürich] und mit Das Helmi Puppentheater | |
(aus Berlin) geleistet hat. Cora Frost mischt auch mit. | |
Der Stoff beruht auf Tolkiens „Herr der Ringe“, erzählt von bekennenden | |
Fans der Fantasy-Saga ebenso wie von Mitspielern, denen Tolkien egal ist. | |
Es ist eine wuselige Installation, mit vielen Darstellenden, Musikern, | |
Tieren und Ungeheuern aus Schaumstoff, großen Leinwänden, um auch zu | |
verfolgen, was sich am anderen Ende des Raums ereignet, vielen Prozessionen | |
durch den Raum, in dem sich Darsteller und Publikum mischen. | |
Allein, der Raum war in der Umsetzung in Berlin im Haus der Berliner | |
Festspiele einfach etwas zu voll. Statt die liebevoll ausgestatteten Inseln | |
im Bühnenbild studieren zu können, war man oft damit beschäftigt, einem | |
Schiff voller Zwerge und Elben auszuweichen, zwischen Schultern einen | |
Durchblick zu suchen, dem Theater nicht im Weg zu stehen. | |
Trotzdem machte die gemeinschaftliche Erzählung der verschiedenen Ensembles | |
Spaß, inklusive der Erklärkunde über die Orks und die Zweifel an der | |
Zulässigkeit der so eindeutigen Zuschreibungen des Bösen. | |
Gleich am Anfang ausgebremst | |
Was bedeutet die Vergangenheit? Das ist eine der Fragen, entlang der sich | |
die eingeladenen Stücke in Beziehung setzen lassen. Bei Tschechow stellt | |
sich die Suche nach dem Neuen Menschen als Bullshit heraus, geeignet | |
allein, durch die Nichterfüllbarkeit der hohen Erwartungen sich selbst | |
gleich am Anfang auszubremsen. | |
Bei Gisèle Vienne hat die Vergangenheit Traumata hinterlassen, die die | |
Protagonisten nie bei sich selbst ankommen lassen. In [7][„Bucket List“, | |
einem Musical von Yael Ronen & Shlomi Shaban], mit dem die Berliner | |
Schaubühne zum Theatertreffen eingeladen war, arbeitet eine Firma daran, | |
den Menschen von traumatischen Erinnerungen zu befreien. Zum Beispiel von | |
unglücklichen Lieben. | |
Das wird verkauft als eine Utopie. Erweist sich aber bald als eine | |
tiefgehende Zerstörung. Wenn Trauer und Schmerz, Verluste und Kummer | |
abgezogen werden vom Ich, bleibt dann mehr als ein seelenloser Automat, | |
fremd und glatt? | |
Yael Ronens Inszenierung hat es in sich. Die Figuren lokalisieren die | |
Geschichte zwar im Privaten; aber das Bühnenbild, in dem es immer wieder | |
weiße Kleidungsstücke von oben regnet, suggeriert auch die Geschichte eines | |
Kollektivs, das hinter sich einen Zug von Toten weiß. | |
Die Musik von Shlomi Shaban ist melodienreich, trostreich, schwungvoll; die | |
Songtexte sind aber oft sarkastisch, bitter, ironisch. Man gleitet mit | |
zweigleisigen Gefühlen durch diesen Abend, an dem sich sprachliche, | |
bildliche, akustische und choreografische Informationen oft in | |
unterschiedliche Richtungen bewegen. | |
13 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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