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# taz.de -- Traumabewältigungs-Musical an Schaubühne: Eine Pille namens Zeitg…
> Posttraumatisches Belastungsmusical? „Bucket List“ von Yael Ronen und
> Shlomi Shaban an der Berliner Schaubühne sediert während der
> Krisenbewältigung.
Bild: Ja wo ist denn die Pille? Carolin Haupt in „Bucket List“
Gleich am Anfang regnet weiße Wäsche vom Himmel. Männerhemden, frisch
gestärkt für den Alphatierchenkampf auf der Vorstandsetage, plumpsen neben
schmalen Hemdchen mit dünnen Trägern auf die Bühne. Manche bleiben kompakt
als Päckchen, werden daher schnell von der Schwerkraft nach unten gezogen.
Andere entfalten sich im Flug, verwandeln sich in Schwebeobjekte, in kleine
Fallschirme gar. Das sieht poetisch aus.
Ein paar Sekunden später stellt sich die Erinnerung an die Gleiter ein, mit
denen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober mitten in der Produktionszeit
dieses Musicals die Zäune von Gaza überwanden und ihr Abschlachten und
Entführen von israelischen Zivilisten begannen. Weiße Kleidung ist in
manchen Gesellschaften das Zeichen von Trauer.
Hierzulande hüllen sich Frauen zur Hochzeit in weiße Wolken, gleiten so
über in eine neue Lebensphase. Ganz vordergründig steht weiße Wäsche für
Reinheit, und auch für das Wiederweißmachen, für das Befreien von ganz
materiellem Schmutz sowie vom metaphorischen Schmutz, der wegen begangener
Untaten an den Kleidern von Tätern – oder sollte man besser sagen:
Untätern? – klebt.
## Gewaltiger Assoziationshorizont
[1][Regisseurin Yael Ronen], Bühnenbildnerin Magda Willi und Kostümbildner
Amit Epstein spannen zu Beginn des Musicals „Bucket List“ also einen
gewaltigen Assoziationshorizont auf. Dem wird das Spiel der dreiköpfigen
Bühnenband und des vierköpfigen Gesangs- und Schauspielensembles über die
Länge dieses Doppelalbums (circa 75 Minuten) leider nicht ganz gerecht.
Komponist Shlomi Shaban hat für sie einen vor allem eingängigen Soundtrack
geschrieben. Er groovt und schwebt. Manchmal dockt er an die verspielte
Leichtigkeit vom Musik-TV-SenderViva in den 1990ern an, als im Bewusstsein
der hiesigen Jugend – okay, abgesehen von den in ostdeutschen Plattenbauten
in Städten und auf dem Lande Aufgewachsenen – alles noch möglich schien und
nichts ein größeres Problem war.
Zuweilen erzeugt die Komposition auch jene forcierte Fröhlichkeit, die in
Kaufhaus-Fahrstuhlmusik gepackt ist, immer dann jedenfalls, wenn nicht zum
Weihnachtskaufrausch animiert werden soll. Das ist thematisch gut gesetzt.
Denn in den Songs, auch die Texte stammen von Shaban, geht es schließlich
um Fröhlichkeit, die nach dem Vergessen kommen soll, nach dem Auslöschen
traumatischer Erinnerungen.
## Modifizierte Erinnerungen
Die Pille, die hier verabreicht wird, ist in diesem Falle nicht einfach nur
Pop an sich, der ja auch vergessen machen darf, sondern sozusagen Pop hoch
zwei. Besungen wird nämlich die neue Produktlinie „Zeitgeist“, die im Hirn
Erinnerungen modifizieren und schlechte am besten ganz eliminieren soll.
Vehikel dafür ist ein neuartiges Gehirnimplantat.
Herz, Leber und Niere, ja sogar die Bauchspeicheldrüse kann die Medizin
mittlerweile austauschen. Warum nicht auch irgendwann das Gehirn? Dass es
dafür Bedarf gibt, belegt der – ebenfalls in einem Song besungene – rasant
wachsende Markt für Behandlungen von posttraumatischen Belastungsstörungen.
Dass es auch bei „Zeitgeist“ Nebenwirkungen geben kann, deuten die Songs
und die Spielszenen zwischen den Songs immerhin an. Eifersuchtsszenarien
ploppen hoch, Missbrauchsszenarien ebenfalls. Und möglich sei sogar, dass
das Gehirnimplantat Erinnerungen ganz anderer Menschen evoziere, die dann
in Konflikt mit dem Restreservoir der eigenen Rückbezüge gerieten, heißt es
in einem weiteren der Songs.
## Operation gelungen, Patient:Innen…
Das sind heftige Schreckensszenarien. Ronen hat sich aber dafür entschieden
– und das ist jetzt das große Aber – ihr vierköpfiges Ensemble (Moritz
Gottwald, Carolin Haupt, Damian Rebgetz und Ruth Rosenfeld) weitgehend in
der Position assimilierter Patient*innen zu belassen, die die
Argumentation des medizinischen Personals stark verinnerlicht haben.
Gelassen-melancholisch werden also die Probleme besungen, Konflikte sehr
gedämpft ausgespielt.
Etwaige Abstoßungsreaktionen scheinen pharmazeutisch beherrschbar. Ein
großes Thema wird in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert. Das
betrübt. Und es verwundert auch. Ronen, die am Gorki-Theater mit Witz,
Schärfe und Furchtlosigkeit beeindruckte, gemeinsam mit Shaban sogar
[2][beim Cancel-Culture-Spott-Musical „Slippery Slope“], kommt bei ihrem
Wechsel zur Schaubühne seltsam gedämpft daher.
Man kann in dem Sedierungsstück „Bucket List“ allerdings auch eine neue –
und interessante – Behutsamkeit entdecken, eine Vorsicht im Benennen und
Erspielen von Phänomenen. Auf alle Fälle handelt es sich um eine
Inszenierung ganz eigener Art.
Im Anschluss an die Premiere setzte sich Shaban noch selbst ans Klavier und
spielte den Titelsong „Bucket List“, der es nicht ins Stück selbst
geschafft hat. Ein guter Song – aber nicht nachvollziehbar blieb, warum
ausgerechnet er es in einem an Höhen und Tiefen eingedämmten Abend nicht
auf die prioritäre Playlist schaffte.
11 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Musical
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