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# taz.de -- Theatertreffen in Berlin: Sich die Welt zurechtzimmern
> Endlich wieder Theatertreffen in Präsenz: Zu sehen gab es Inszenierungen
> von Yael Ronen, Christopher Rüping und Lukas Holzhausen.
Bild: Szene aus dem Theaterstück „Ein Mann seiner Klasse“
Berlin taz | Die Kastanien blühen wieder vor dem Haus der Berliner
Festspiele. Das tun sie eigentlich jedes Jahr im Mai, aber zwei Jahre lang
spielte das keine Rolle für das Publikum des Theatertreffens in Berlin, das
pandemiebedingt [1][nur am Bildschirm rezipiert werden konnte]. Jetzt ist
das Theater-Liveerlebnis wieder gerahmt vom Treffen und Reden unter den
blühenden Bäumen.
Das Publikum der Eröffnung am Freitag im Haus der Berliner Festspiele
schien beinahe gerührt von der eigenen Präsenz. Die Reden von Yvonne
Büdenhölzer, letztes Mal Leiterin des Theatertreffens, und von Claudia
Roth, Kulturstaatsministerin, wurden mit großer Freude und viel
Zwischenapplaus entgegengenommen.
Claudia Roth lobte, dass Yvonne Büdenhölzer eingeführt hat, dass die Hälfte
der zehn eingeladenen Inszenierungen von Frauen kommen soll. Und
Büdenhölzer betonte, dass in unterschiedlichen Plattformen Fragen der
Zukunft verhandelt werden, von Macht- und Genderdiskursen bis zu einem
Green Deal in der Kultur.
Das Eröffnungsstück „Das neue Leben“ wurde vom Regisseur Christopher Rüp…
am Schauspielhaus Bochum zwischen zwei Lockdowns erarbeitet. Zwei Frauen
und zwei Männer beschäftigen sich mit Dante Alighieri und seiner Anbetung
der Liebe in Gedichten an Beatrice. Etwas spröde und mit leichter Ironie
zelebrieren die vier, unterstützt von einem erstaunlich elektrischen
Klavier auf der sonst leeren Bühne, die Manöver, mit denen Dante einer
realen Begegnung mit Beatrice ausweicht, „ich will nicht, dass es echt
wird, ich will, dass es vollkommen bleibt“.
## Das Reale hat's nicht einfach
„Das neue Leben“ ist eine schöne Versuchsanordnung über das Verhältnis
zwischen einer den Idealen nie genügenden Realität und der produktiven
Kraft der Kunst als Trauer- und Trost-Apparat, der allerdings wiederum
Bilder hervorbringt, die es dem Realen auch nicht einfach machen. Am Ende
beschwert sich eine gealterte Beatrice im Paradies in einem witzigen
Wortgefecht mit Dante, wie eng er ihren Rahmen gesteckt hat. Er denkt, er
habe sie unsterblich gemacht, sie sieht in jedem Gedicht einen Grabstein.
Dennoch blieb „Das neue Leben“ eine etwas luftige Skizze, die mit ein paar
Ideen spielt, den Erzählraum der Bühne aber längst nicht so füllt wie
[2][andere Inszenierungen von Rüping].
Zeitgleich lief am Gorki Theater in Berlin [3][„Slippery Slope“ von Yael
Ronen] als Teil des Theatertreffens am eigenen Haus. Das ist ein Musical,
das mit sehr doppelbödigem Witz von Skandalen im Kulturbetrieb erzählt,
dabei in seinen Schuldzuweisungen aber nie eindeutig wird.
Fast hinter jedem Vorwurf wie Machtmissbrauch oder kultureller Aneignung
lässt sich auch jemand finden, dem der Vorwurf in seinem Aufstieg nützt in
dem komplizierten Personengeflecht um den Ethnofolksänger Gustav. Das Gorki
Theater hat mit dieser pointenreichen Inszenierung einen effektvollen Hit
gelandet.
## Bedrückende Kindheit in Armut
Während Yael Ronen und Christopher Rüping schon mehrfach zum Theatertreffen
eingeladen waren, ist der Regisseur Lukas Holzhausen zum ersten Mal dabei.
Er hat am Schauspiel Hannover [4][„Ein Mann seiner Klasse“ nach dem
gleichnamigen Roman von Christian Baron] inszeniert.
Holzhausen hat für seine Bühnenerzählung eine geradlinige und eindrückliche
Form gefunden, die das Bedrückende der Kindheit, von der Baron erzählt, nie
aus dem Blick verliert, Klischees in der Darstellung einer Familie in Armut
mit einem prügelnden Vater zu vermeiden weiß und schnörkellos zwischen
erzählender Prosa und dem Springen in dramatische Szenen pendelt. Die
dezenten Stilisierungen nehmen der Drastik des Geschehens alles
Spektakuläre.
Nikolai Gemel ist der Erzähler Christian, der auf seine Kindheit
zurückblickt, auf die Scham, nichts von den existenziellen Konflikten nach
außen dringen zu lassen. Vieles von dem, was er beschreibt, sei ihm erst im
Rückblick klar geworden. Er musste mit einem Vater zurechtkommen, den er
zugleich fürchtete und liebte, der für vieles keine Worte hatte und zu
jähzornigen Ausbrüchen neigte.
Zu seinen Lebzeiten konnte Christian ihm nicht verzeihen; sein Roman ist
auch der Versuch, die eigene Geschichte zu verstehen und zu klären, wo ihre
scheinbare Zwangsläufigkeit Produkt sozialer Ausschließungen ist.
Mit dem Erzähler stehen sein Bruder Benny und Stella Hilb als seine Mutter
und als deren Schwester auf der Bühne. Tante Juli erzählt von Christians
Mutter, ihrem Interesse an Poesie und wie sie dafür keinen Raum im Leben
fand. Der Vater aber, an dem sich die Mutter, Christian und seine
Geschwister gerieben haben, wird nicht direkt verkörpert. Ein paar
Dialogsätze kommen aus dem Off.
Für seine körperliche Präsenz aber steht Michael „Minna“ Sebastian, der
wortlos bleibt, auf der Bühne; beziehungsweise er baut ein Bühnenbild,
stellt Wände auf und tapeziert und ist ein stetiger Schaffer mit jener
Zuverlässigkeit und Ausgeglichenheit, die Christians Vater eben nie
erreichte. Denn die Spurensuche des Erzählers gilt auch der Frage, was den
Vater scheitern ließ, welche Schatten seiner Geschichte ihn gefangen
hielten. So ist es ein schlüssiges Bild, wenn am Ende der Inszenierung die
letzte Wand geschlossen wird.
9 May 2022
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## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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