# taz.de -- Stückemarkt des Theatertreffens Berlin: Was vor uns liegt | |
> Wie sieht die Zukunft aus? Wie steht es zwischen Mensch und Tier? Wer | |
> wird arm, wer reich? Das verhandelten junger Autoren auf dem Stückemarkt. | |
Bild: Szenische Lesung aus „AirSpace or In the Next Century“ von Eric Marli… | |
Draußen, vor dem Haus der Berliner Festspiele, kommt ein junger | |
Flaschensammler mit einer Gruppe junger Leute ins Gespräch, die ihm | |
schließlich alle ihre Flaschen geben. Eine alltägliche Szene? Nein, eher | |
ungewöhnlich, denn die Scham davor, seine Bedürftigkeit sichtbar werden zu | |
lassen, zieht meist Trennungslinien zwischen den Flaschensammlern und | |
denen, die ihre Pfandflaschen stehen lassen. | |
Davon weiß das Kolektiv Igralke & Tjaša Črnigoj aus Rijeka (Kroatien) viel | |
zu erzählen. Sie haben über Rentnerinnen recherchiert, deren Rente trotz | |
langer Arbeitsjahre nicht reichte, sie vor dem Rauswurf aus der Wohnung zu | |
bewahren. Mit vier der alten Damen haben Sendi Bakotić, Ana Marija | |
Brđanović, Anja Sabol und Vanda Velagić schließlich länger in einem | |
Workshop gearbeitet: Herausgekommen ist ein wunderbar berührendes | |
dokumentarisches Theaterstück über vier ältere Flaschensammlerinnen, die | |
zuvor als Lehrerin, Bankangstellte oder Hausmeisterin gearbeitet haben. | |
Dass sie gebildet sind und einmal bürgerlich waren, welche Filme sie gerne | |
sahen und wo sie glücklich waren, ist ebenso Teil der Geschichten wie der | |
Versuch, in zwei Minuten in einer öffentlichen Dusche zu duschen und | |
Unterwäsche zu waschen oder achtzig Flaschen am Tag zu sammeln. Ihr Leben | |
ist anstrengend. | |
Das Kolektiv Igralke & Tjaša Črnigoj war mit dieser Inszenierung zum | |
[1][Stückemarkt des Theatertreffens] eingeladen. Die vier Frauen auf der | |
Bühne erzählen von der behutsamen Annäherung während der Recherche. Sie | |
bauen poetische Momente ein, in denen auch die gesammelten Flaschen eine | |
eigene Biografie haben, von Glamour und dem Eingehen ins Nirwana träumen. | |
Die Inszenierung, in Originalsprache mit deutscher Übertitelung zu sehen, | |
ist faktenreich, bezieht das Publikum in seiner Unkenntnis über den Alltag | |
der Verarmten mit ein – niemand aus dem Publikum weiß, ob und wo es | |
öffentliche Duschen in Berlin gibt. Und ihr Stück wird zunehmend auch zu | |
einer Liebeserklärung an die alten Frauen. | |
## Die Kontrolle? Die scheint futsch | |
Der Stückemarkt präsentiert fertige Inszenierungen und neue Texte in | |
szenischen Lesungen. Sie alle beschäftigten sich mit Vorstellungen von | |
Zukunft; niemand sieht die mehr als gesichert. Im Versuch der Menschen, die | |
Kontrolle zu behalten, nehmen immer mehr Absurditäten Gestalt an in den | |
beiden Stücken von Eric Marlin (USA) und [2][ruth tang] (Singapore/USA/New | |
Zealand), die an einem Abend hintereinander weg in englischer Sprache im | |
Foyer präsentiert wurden. | |
„Die Zukunft ist mehr wert, als wir ihr mit unserem Handeln zugestehen. | |
Jeden Tag verbrennen wir die Zukunft, damit es in der Gegenwart beim | |
„weiter so“ bleiben kann. Wenn ich „wir“ sage, dann meine ich diejenige… | |
die denken, die Welt gehöre ihnen, die das Verbrennen erfunden haben, die | |
darauf bestehen, dass ein Nicht-Verbrennen unmöglich ist.“ In ihrem | |
Statement im Programmbuch des Theatertreffens gibt sich ruth tang | |
kämpferisch. | |
In der szenischen Lesung ihres Stücks „future wife“ braucht man hingegen | |
einige Zeit, um das Setting zu begreifen. Da gibt es Piraten, die darüber | |
abstimmen, wer den Schatz behalten darf und wer umgebracht wird. Da gibt es | |
ein Liebespaar, das sich im Schlachthaus gefunden hat: Sie mit dem Messer | |
an der Schlachtbank und er, nun ja, kopfunter an der Kette hängend, ein | |
Ziegenbock. Mit Liebe auf den ersten Blick können die Schlachterinnen ein | |
Tier erretten. Diese Beziehung zwischen der jungen Frau und der Ziege ist | |
so weit weg von unserer Vorstellungskraft, dass sie gerade damit den | |
Abgrund ausleuchtet, der uns von Gleichberechtigung im Verhältnis Mensch | |
und Tier trennt. | |
## Im Ungewissen | |
So arbeitet ruth tang zwar einerseits mit überraschenden Bildern. Denen | |
allerdings andererseits nicht immer leicht zu folgen war in der szenischen | |
Lesung, die [3][Marie Schleef] eingerichtet hatte. In welcher Zeit, an | |
welchem Ort man sich befindet? Die Zuschauer schwammen im Ungewissen. | |
Das Gefühl für das Hier und Jetzt zu verlieren, sich abgenabelt zu fühlen | |
von der eigenen Geschichte: Das war dann in „AirSpace or In the Next | |
Century“ von Eric Marlin direkt das Schicksal der Protagonistin. Sapir | |
Heller hatte die szenische Lesung mit viel Temperament und Witz | |
eingerichtet. Susannah, Ende 30, die vermutlich aus den USA in Rumänien | |
angekommen ist, um ein Unternehmen bei seiner Expansion zu beraten, greift | |
wahlweise nach der Keksschachtel, dem Blumentopf oder der Hand des | |
rumänischen Firmenchefs, um sie sich als Telefon ans Ohr zu halten, wenn | |
wieder ihre Mutter anruft. Der Vater ist gestorben, nein, sie kommt nicht | |
zurück. | |
Zunehmend genervt wimmelt sie die Mutter ab, legt sich mit der rumänischen | |
Kollegin an, die sich nicht von ihr bevormunden lassen will, vergisst ihre | |
Freundin im Hotel. Die Welt der globalisierten Wirtschaft ist bei Eric | |
Marlin eine, in der die Menschen ihre Seele und ihre Identität verlieren. | |
Was auf der Bühne freilich schon öfter erzählt wurde. | |
16 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5767762&s=St%C3%BCckemarkt+Theatertreffen&SuchRahmen… | |
[2] https://ruthtang.com/about | |
[3] /Archiv-Suche/!5836586&s=Marie+Schleef&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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