# taz.de -- Festival Theater der Welt Halbzeitbilanz: Gigantisch und furchterre… | |
> Inkubationismus als Anker – eine Bilanz des Festivals Theater der Welt in | |
> Frankfurt am Main. Chiaki Soma hat das Programm kuratiert. | |
Bild: Szene aus dem zwanzigminütigen Solo „Sister or He buried the Body“ v… | |
Wie ein x-beliebiger Besucher läuft er durch den gut besuchten Raum und | |
lässt sich in einer Ecke auf einem Sitzkissen nieder. Es ist der | |
US-amerikanische Tänzer und Choreograph Trajal Harrell, der sein | |
20-minütiges Solo „Sister or He buried the Body“ präsentiert. Harrell | |
spielt Musik dazu ab, etwa von Joni Mitchell, deren schönen Jammerton er | |
gestisch und mimisch aufnimmt, bis man denkt, hier tanze jemand eine Art | |
Requiem. Das Publikum wohnt dem bei wie einer Messe, in der Harrell den | |
Guru gibt. | |
Eine sehr besondere Veranstaltung und ein einsamer Höhepunkt im Museum | |
Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Das Haus verwandelte sich während | |
des Festivals Theater der Welt, diesmal in Offenbach und in Frankfurt am | |
Main zu Gast, zum „Incubation Pod“, zur Inkubationskapsel also. Dazu muss | |
man wissen, dass die diesjährige Festivalleiterin Chiaki Soma den | |
Inkubationismus als Festivalanker ausgeworfen hat. | |
Der Begriff bezieht sich zum einen auf das Ausbrüten von Eiern und meint | |
zum anderen die Phase bis zum Ausbruch einer Krankheit. Für Soma sind das | |
Momente der Ungewissheit, aus denen Neues entstehen kann. Auch die | |
Covid-19-Pandemie liest sie als eine solche Phase. „Ich finde, dass wir aus | |
dieser Erfahrung lernen müssen. Inkubationismus ist für mich | |
gleichbedeutend mit einer positiven Einstellung gegenüber einem Leben in | |
Ungewissheit.“ | |
Ihr Programm heckte sie größtenteils im Lockdown aus, in einem kleinen | |
Zimmer in Tokio, wie sie bei der Eröffnung des Festivals erzählt. Das merkt | |
man einigen Arbeiten an, die auf Heilung und Genesung setzen. | |
## Entspannung mit VR-Brille | |
Im Museum lädt etwa das britisch-deutsche Kollektiv Keiken zur Entspannung | |
ins Bällebad. Was zuerst nervt, weil man die Schuhe ausziehen und seinen | |
Kram ablegen muss, erweist sich dann als überraschend wohltuende Pause. | |
Eigentlich werden einem zu der Wonne noch VR-Brillen gereicht, so dass | |
bunte Bildchen vor den Augen flimmern. Die Brillen versagten bei unserem | |
Besuch allerdings ihren Dienst. | |
Virtuelle Realitäten interessieren die japanische Festivalmacherin Chiaki | |
Soma sehr. Dem preisgekrönten thailändischen Filmregisseur Apichatpong | |
Weerasethakul schickte sie etwa ein VR-Headset nach Chiang Mai, woraufhin | |
er „A Conversation with the Sun (VR)“ entwickelte. Soma hat die Arbeit | |
produziert, sich damit also quasi selbst eingeladen. | |
## Effekte aus 3-D-Filmen | |
Auch Meiro Koizumi arbeitet für „Prometheus Unbound“ mit VR-Brillen. Mit | |
dem schweren Ding auf dem Nasenrücken wandelt man in einem Raum umher; | |
zuerst bleibt alles im Rahmen, ein paar Quadrate und andere Figuren fliegen | |
durch die Luft, was zu Effekten führt, die man aus 3D-Filmen kennt. Mit | |
einem Mal aber verliert man den Boden unter den Füßen und muss kurz nach | |
Luft schnappen, weil man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Ein | |
gigantisches Gefühl, gleichzeitig furchterregend. | |
Eine neue Erfahrung in jedem Fall, und gerade die hat Soma dem Publikum | |
vorab in Aussicht gestellt. Sie spricht auch lieber von einem Theater der | |
Welten, weil sie an Pluralität interessiert sei und binäres Denken für | |
überholt halte. Menschen, Tiere, Dinge – alle sollen zu ihrem Recht kommen. | |
Das machte dann tatsächlich schon die abgefahrene Eröffnungsinszenierung | |
von Satoko Ichihara eindrücklich deutlich. Im Offenbacher Capitol Theater | |
sorgt sie mit ihren „Holstein-Milchkühen“ für einen furiosen Auftakt, der | |
zwar einige Besucher:innen verschreckt, aber doch ein Ausrufezeichen | |
setzt. Das Ganze kleidet sich als ätzende Adaption der „Bakchen“ von | |
Euripides und fängt ganz harmlos mit einer Hausfrau im trauten Heim an. | |
## Krudes Musical | |
Die quatscht ohne Unterlass und rettet sich zuweilen in körperliche Tics, | |
wie die Figuren des Regisseurs Toshiki Okada. Dabei berichtet sie von ihrer | |
Arbeit als Besamungstechnikerin von Milchkühen. Aufgrund eines Fehlers | |
fabriziert sie ein Mischwesen aus Kuh und Mensch. Im weiteren Verlauf des | |
kruden Musicals wird das Leben von Hausfrauen in einem | |
Ausbeutungszusammenhang mit dem Leben der Kühe gesehen, ein feministischer | |
Bullenritt sozusagen, der hier nach allen Regeln der Performancekunst aus | |
dem Ruder läuft, Plastikpenisse und Gekreische inklusive. | |
Zusammengehalten wird das von einem fantastisch aufgestellten Frauenchor, | |
hier und da ist man wohl zum Karaokesingen aufgerufen; da die Passagen nur | |
auf Japanisch eingeblendet werden, müssen wir passen. Der Abend erzählt | |
viel übers rigide Patriarchat in Japan, über verkrustete | |
Geschlechterverhältnisse und verklemmte Sexualmoral. Zu gern hätte man ihn | |
am Entstehungsort gesehen. | |
Das 1981 vom deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) | |
aus der Taufe gehobene Festival Theater der Welt wird alle drei Jahre in | |
einer anderen Stadt ausgetragen und ist eines der wichtigsten in | |
Deutschland. | |
Mit Chiaki Soma wurde es zum ersten Mal von einer Nicht-Europäerin | |
kuratiert. Mit 36 verschiedenen Gastspielen und Neuproduktionen präsentiert | |
sie so viel Programm wie nie zuvor. Solche Superlative sind wie gemacht für | |
Pressemeldungen, doch man fragt sich, ob diese Art von Überangebot noch | |
zeitgemäß ist. Das Programm überfordert einen auch als Berichterstatterin, | |
wobei es ohne Frage viel Tolles zu entdecken gibt. Etwa die beiden extrem | |
unterschiedlichen Beiträge aus Iran. Parnia Shams zeigt mit „(Ist)“, wie es | |
in einer privaten Mädchenschule zugeht. Sieben Schülerinnen sitzen bei ihr | |
mit Hidschab über dem Kopf und bunten Turnschuhen an den Füßen in einem | |
Klassenraum. | |
## Wie im echten Leben | |
Sie machen das, was man halt so macht in einem Klassenraum. Es gibt | |
Streberinnen und Nullcheckerinnen, wie im echten Leben auch. Zwei der | |
Mädchen freunden sich an, was die Gerüchteküche anheizt. Alles, was in | |
Verdacht steht, gegen die Regeln zu verstoßen, ist von vornherein verdammt. | |
In 60 unspektakulär daherkommenden Minuten versteht es die Inszenierung, | |
den iranischen Überwachungsstaat im Kleinen nachzuzeichnen. | |
Shams erfindet das Theater beileibe nicht neu, ihre Arbeit wirkt dennoch | |
über den Moment hinaus, was auch daran liegen könnte, dass alle | |
Spielerinnen ohne Kopfbedeckung zum Schlussapplaus kommen. Was für ein | |
schönes Signal. Noch offenherziger präsentiert sich die in den Niederlanden | |
lebende Performerin Nastaran Razawi Khorasani in ihrer Show „Songs for no | |
one“. Dafür hat sie während der Pandemie mit Kindern in Iran telefoniert. | |
Die aufgezeichneten Telefonate auf Farsi sind Teil des Programms; die | |
Kinder erzählen darin vom Alltag im Gottesstaat, ihren Vorlieben, ihrem | |
Musikgeschmack, meckern über die Islamische Republik. | |
Als eines der Kinder einen seiner Lieblingshits singt, zensiert es sich | |
gleich selbst, schweigt an den Stellen, an denen Drogen, Alkohol oder | |
Flüche vorkommen. Die Performerin selbst singt auch einige Songs und lässt | |
die Bilderwelten der Kinder in animierte utopische Filmsequenzen münden. | |
Der ganze Abend wirkt wie ein Akt der Rebellion, ein Akt des Widerstands. | |
Der Begriff der Inkubation könnte hier den fragilen Moment meinen, in dem | |
das Eis bricht, den Zeitpunkt, an dem eine Revolution ausbricht. Es gehört | |
zum großen Verdienst dieser Festivalausgabe, dass sie uns, ohne belehren zu | |
wollen, auf diese Knackpunkte aufmerksam macht. | |
14 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
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