# taz.de -- Fazit des Berliner Theatertreffens: Auftritt des Unvorhersehbaren | |
> Das diesjährige Theatertreffen in Berlin geht zuende. Es waren anregende | |
> Stücke dabei. Während der Pandemie entstanden, erzählen sie vom Verlust | |
> der Gewissheiten. | |
Bild: Visuell in Bonbonfarben: Aus dem Stück „Like Lovers Do“ | |
In Toshiki Okadas Inszenierung „Doughnuts“ kommt die Angst leise und wie | |
auf flauschigen Socken angeschlichen. Der Autor und Regisseur aus Japan, | |
der inzwischen in Deutschland lebt, lässt seine Figuren langsam erkennen, | |
dass die Katastrophen, deren Abwendung sie sich in einer Konferenz widmen | |
wollten, womöglich schon eingetroffen sind. Genaueres lässt sich nicht | |
sagen, denn sie hängen fest in der Lobby im 22. Stock eines neuen Hotels. | |
Nebel schneidet sie von der Außenwelt ab, Taxis und Busse fahren nicht | |
mehr. | |
In den sozialen Medien verfolgen die fünf, allesamt ständig unterwegs im | |
globalisierten Konfliktmanagement, die Geschichten eines Bären, der sich in | |
einen Supermarkt verirrt hat und sie stellen sich vor, wie er einen | |
Einkaufswagen schiebt. Sie reflektieren die Exklusivität, die ihnen die | |
Hotelwelt bietet, wohl wissend um die beunruhigende Distanz zum Leben | |
außerhalb. Sie reden über die Notwendigkeit von Annahmen, um Pläne für | |
Veränderungen entwickeln zu können. | |
Ihre Situation aber führt ihnen vor, wie der Einbruch des Unvorhersehbaren | |
alle Annahmen und Vorhaben durchkreuzt. Es ist unheimlich, wie bekannt das | |
einem vorkommt. Okada schrieb das Stück während der Pandemie, als in Japan | |
für die Olympischen Spiele neu gebaute Hotels leer standen. | |
[1][Okada] nimmt in seiner stilisierten Ästhetik alles Erregte und Schrille | |
aus dem Spiel. Seltsame Bewegungen, die von Ferne an Sportarten erinnern | |
(Bogenschießen, Schwebebalken) und verfremdend langsam ausgeführt werden, | |
begleiten die Sätze, kommentieren sie auch, lassen die Körper in schiefe | |
Lagen geraten und da hängen sie dann eine Weile. | |
## Verliebt in die Selbstoptimierung | |
Die Choreografie liefert fast unbemerkt ein karikierendes Bild einer in | |
Fitness und Selbstoptimierung verliebten Gesellschaft, deren Suche nach | |
Kontrolle beim eigenen Körper beginnt und dort vielleicht die letzten noch | |
möglichen Erfolgserlebnisse hat. | |
Die Inszenierung vom Thalia-Theater Hamburg, eingeladen zu den zehn | |
„bemerkenswerten“ Stücken des Theatertreffens in Berlin, wurde dort im HAU | |
aufgeführt, wo Okada früher schon mit seiner Company aus Tokio aufgetreten | |
war. Das HAU war auch der Aufführungsort [2][von Helgard Haugs] „All right. | |
Good night“, einer Koproduktion von Rimini Apparat, dem HAU in Berlin, dem | |
Volkstheater Wien und weiteren Partnern. | |
Der Auftritt des Unvorhersehbaren und der Verlust der Kontrolle: Auch „All | |
right. Good night“ kreist darum mit zwei verzahnten Erzählsträngen, die | |
zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen hin- und herpendeln. | |
Über acht Jahre hinweg werden zwei Geschichten von großen Verlusten und | |
Trauer erzählt. | |
Zum einen geht es um einen Vater, dem mit der Demenz immer mehr Teile | |
seiner Persönlichkeit entgleiten, zum anderen um 239 Passagiere eines | |
Flugzeugs der Malaysian Airlines, das eine Stunde nach dem Start vom Radar | |
verschwand. Wrackteile wurden später zwar weit verstreut gefunden; für die | |
Hinterbliebenen der Passagiere aber blieben viele Frage offen nach dem, was | |
passiert war, und die Ungewissheit ist quälend. Theorien werden entwickelt, | |
in denen politische und kapitalistische Verschwörungen eine Rolle spielen. | |
## Von Verlust und Trauer | |
Von diesen Verlusten erfährt man größtenteils im Medium der Schrift auf | |
einem Gazevorhang. Man liest den Stücktext also, still und gemeinsam, ein | |
intimer Rezeptionsmodus, eine ästhetische Form des Verzichts und des | |
Wegnehmens vieler theatraler Mittel, die damit das Verschwinden des als | |
gegeben Angenommenen auch im sinnlichen Entzug umsetzen. | |
Aber es steht hinter dem Gazevorhang ein Musikensemble auf der Bühne, das | |
Zafraan Ensemble, das zusammen mit Barbara Morgenstern eine Komposition | |
entwickelt hat, die einen durch die erzählten acht Jahre von Verlust und | |
Trauer trägt. So gleicht die Inszenierung auch einem dramatischen Konzert. | |
Das Theatertreffen zu besuchen, gerade auch nach zwei Jahren, in denen es | |
nur digital stattfinden konnte, gleicht für eine Kritikerin auch dem | |
Sammeln von Schätzen, die erzählerisch auszubreiten es drängt. Und doch | |
schreibt man mit der Sorge, bringt das dem, der die Stücke nicht gesehen | |
hat, auch genug? Es sind ja oft gerade die Details, die beim Zuschauen | |
berühren und begeistern, im Zusammenfassen aber oft verloren gehen. | |
Das postdramatische Theater, zu dessen Protagonisten ich Helgard Haug und | |
Toshiki Okada zählen will, ist in den Jahrzehnten seiner Entwicklung in den | |
Verruf geraten, mit seinem Verzicht auf Handlung zu langweilen und in | |
Selbstbezüglichkeiten stecken zu bleiben. Ein Resümee des Theatertreffens | |
2022 ist aber, dass dies nicht stimmt. | |
## Ukrainekrieg spielt in der Wahrnehmung eine Rolle | |
Seine Mittel taugen dann doch sehr gut, von den Herausforderungen und den | |
Hilflosigkeiten der Gegenwart zu erzählen, dabei zu fesseln, zu | |
unterhalten, emotional zu erfassen und die Gedanken aus eingefahrenen | |
Bahnen auf ungesichertes Gelände zu bringen. | |
Gearbeitet wurde an den eingeladenen Stücken in der Zeit der Pandemie, | |
unter erschwerten Bedingungen, als auch die Theater ihre Verletzbarkeit | |
erfuhren. Dass die Jury trotzdem eine so gute Auswahl treffen konnte, ist | |
erfreulich. Dass sich so viele Spuren der Verunsicherung durch die | |
präsentierten Stoffe ziehen, könnte aber ein Effekt der Pandemie-Zeit sein. | |
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spielt in den Inszenierungen | |
keine Rolle, aber für die Wahrnehmung der Stücke. Man wundert sich, wie | |
dort teilweise ausgesprochen scheint, was gerade jetzt für Erschütterung | |
sorgt: auf wie dünnem Fundament doch vieles gebaut ist. | |
Das Theatertreffen hatte eine Lesung ukrainischer Autoren mit ins Programm | |
genommen, „Vom Krieg“, initiiert von der Dramatikerin Anastasiia Kosodii, | |
die 2019 Stipendiatin des Internationalen Forums des Theatertreffens war. | |
„Vom Krieg“ war inzwischen an vielen Theatern in Deutschland zu Gast. | |
## Texte aus der Gegenwart des Krieges | |
Die Texte kommen unmittelbar aus der Gegenwart des Krieges und erzählen | |
davon, wie er die Sprache verändert, wie jeder Ortsname an einer Zugstrecke | |
die Bedeutung verändert, was Kinder plötzlich lernen müssen, wie der Körper | |
reagiert, wie Hass entsteht, welche Gefühle man sich als Luxus nicht mehr | |
leisten kann. Die von Schauspieler*innen gelesenen Abschnitte der fünf | |
Autorinnen und Autoren, die sie teils in der Ukraine, teils im Ausland | |
geschrieben haben, waren kurz, aber doch randvoll mit der Trauer gefüllt, | |
über all das, was schon zerstört wurde im Land und in den Menschen. | |
Das Publikum nach der Lesung blieb still und konnte sich, vielleicht auch | |
getroffen vom Schock durch den Einbruch des Realen, nicht zu Fragen | |
aufraffen. Mit Beklemmung ging man auseinander. | |
Aus den Münchner Kammerspielen war die Inszenierung „Like Lovers Oo | |
(Memoiren der Medusa)“ eingeladen, nach einem [3][Text der Autorin Sivan | |
Ben Yishai], inszeniert von Pınar Karabulut. Visuell in Bonbonfarben und in | |
ein fantastisches Setting von Fabelwesen und Aliens gepackt, die am Ende in | |
den Bühnenhimmel aufsteigen, ist das Stück auch eine Zumutung, denn der | |
Text bewegt sich durch das Unerträgliche. | |
Die Sätze sind vollgepackt mit Erfahrungen von sexuellem Missbrauch, | |
Übergriffigkeit, Erniedrigungen, asymmetrischen Machtverhältnissen. Man | |
weiß, dass all dies passiert; aber Sivan Ben Yishai verwendet keinen | |
dokumentierenden Gestus in der Sprache und auch keinen anklagenden. Sondern | |
sie nutzt einen affirmativen, hymnischen Ton, den man als Zuschauerin erst | |
schockstarr entgegennimmt, dann aufhalten möchte, wie er noch und noch eine | |
Schlaufe dreht. | |
Selten fühlt man sich so unbehaglich. Wer aus den so bunt kostümierten | |
Körpern spricht, die den Worten Sanftheit, Lieblichkeit und Überzuckerung | |
schenken, lässt sich lange nicht verorten. Bis eine pubertäre Mädchenclique | |
auftaucht, aber können das ihre Vorstellungen sein? Langsam verschieben | |
sich die sprachlichen Bilder, Szenarien von der Suche nach einem Beschützer | |
tauchen auf, heimelige Paarbeziehungen werden ausgemalt, in denen dann doch | |
wieder Schreckliches passiert. Aber auch die Vorstellungen von Tätern und | |
Opfern verändern sich, verlieren ihre Eindeutigkeit in der Konditionierung | |
auf männliche und weibliche Rollen. | |
[4][Die Inszenierung von Pınar Karabulut] ist beherzt und zum Erschrecken | |
witzig. Die kuschligen und infantilen visuellen Szenarien bebildern die | |
geschilderten Akte von erzwungenem Sex nie; aber man traut ihnen zu, die | |
Fassade zu bilden, hinter der sich die Szenen abspielen. In der | |
Konfrontation mit diesem Stück Theater kommt man nicht zur Ruhe. | |
22 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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