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# taz.de -- Uraufführung in München: Die fieseste Lüge überhaupt
> Sivan Ben Yishais Drama „Like Lovers do“ wird in München uraufgeführt. …
> ist eine neonfarbene Hölle aus Gewaltfantasien.
Bild: Fünf Freundinnen im Kampf um die Erinnerungen der Medusa
Nach den ersten Sätzen ist klar: Das wird ein anstrengender Abend. „Dieses
Lied ist dem gewidmet, der mich in einem Flur voller Schlangen fickte, bis
meine Augen weiß und zu Knochen wurden“ – ein Auftakt wie ein Tusch.
Fünf beste Freundinnen stehen auf der Bühne und holen die „Memoiren der
Medusa“, so der Untertitel von [1][Sivan Ben Yishai]s Text „Like Lovers
Do“, in die Gegenwart. Stellvertretend erleben sie die Qualen der
griechischen Sagengestalt im Diesseits: Die Medusa wird Opfer einer
Vergewaltigung durch Meeresgott Poseidon im Tempel der Athene, eines
Mordes, einer Schändung und zuletzt noch eines Fluches: Als einzige der
drei Gorgonen ist die Sagengestalt sterblich. Und selbst ihr abgetrennter
Kopf bleibt eine tödliche Waffe, die Männern gefährlich werden kann: Ein
Blick aus den toten Augen der Medusa lässt sie versteinern.
Regisseurin [2][Pınar Karabulut] lässt die fünf besten Freundinnen –
besetzt mit Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Bekim Latifi, Edith
Saldanha und Mehmet Sözer – jede Hölle und alle Sehnsuchtsorte
durchschreiten, die Menschen einander bereiten können. Dabei lotet Sivan
Ben Yishai die Grenzen der Sprache in einer Weise aus, die Medien, sozialen
Netzwerken und selbst Filmen üblicherweise verboten ist und die in dieser
Härte und Unmittelbarkeit dem Theater vorbehalten bleibt.
Mehr wird an diesem Abend mehr: Mehr Schmerz, mehr Furor, mehr Angst, mehr
Gefühl werden unterstützt durch fast durchgehend brüllende, singende oder
greinende Schauspieler. Mehr grelle Farben, flackerndes Licht, ein Ufo, das
sich – natürlich im Trockennebel – auf die Bühne senkt, ein Finale als
Luftperformance (Bühnenbild: Michela Flück). Ein Tümpel, in dem Blut oder
Sperma rot blubbernd kocht und in den die Figuren kopfüber abstürzen.
Die eingangs noch prall aufgeblasenen Luftschloss-Türme auf Medusenköpfen,
die die Bühne umgeben, sacken irgendwann kraftlos in sich zusammen, etwa
als von Lorena Bobbit die Rede ist, die vor knapp einem Vierteljahrhundert
den Penis ihres gewalttätigen Gatten einfach abtrennte. Und irgendwann
singt dann noch irgendwer „Time of My Life“, das sehnsüchtige
Liebesbekenntnis des verruchten kleinen Mannes aus dem Teenie-Film „Dirty
Dancing“ – und das nicht mal schlecht.
## Starke Frauenpartnerschaften
Tatsächlich sind starke Verbindungen von mindestens fünf kraftvollen Frauen
hinter der Inszenierung zu erkennen: Kammerspiel-Intendantin Barbara Mundel
arbeitet in der laufenden Spielzeit bewusst mit gegenwärtigen Stoffen und
einem jungen Bühnenensemble (fast alle Darsteller von „Like Lovers Do“ sind
keine dreißig). Die 1978 in Tel Aviv geborene Autorin Sivan Ben Yishai hat
in Tel Aviv szenisches Schreiben und Theaterregie studiert und lebt seit
neun Jahren in Berlin.
Ihre englischen Texte werden von der jungen Schriftstellerin und Lyrikerin
Maren Kames ins Deutsche übertragen. Die hochpoetischen Bildfolgen fügen
sie assoziativ zusammen, und die anspielungsreichen Dialoge könnten einen
auf die Idee bringen, manches „nein“ sei womöglich ein verschämtes „ups…
Extremerfahrungen der Angst und Wut verleihen sie durch die Macht der
Sprache eine Allgemeingültigkeit. „Die Vergangenheit ins Unwirkliche
verformen“, „Unseren Erinnerungen standhalten“ und „Wie man Viele ist“
steht über den einzelnen Kapiteln der Bühnenfassung von „Like Lovers Do“.
Regisseurin Pınar Karanbulut verbindet mit ihrer Bühnenbildnerin Michela
Flück eine kontinuierliche Zusammenarbeit; zuletzt war von ihr [3][„Der
Sprung vom Elfenbeinturm“] zu sehen, Texte von Gisela Elsner, die ebenfalls
Frauen in den Fokus rücken.
Ein leuchtendes Solo legt allerdings ein Mann hin, Bekim Latifi, der sich
im letzten Drittel des Stückes – von seinen vier besten Freundinnen
verlassen, die mal eben in die Maske müssen – allein im Bühnenraum in einen
ekstatischen Rausch steigert. Er beschreibt in wilden Worten und krassen
Fratzen, wie Männer durch jahrzehntealte Fantasiebilder aus Werbung,
Magazinen und TV-Schmonzetten vergewaltigt werden: „Schwänger mich! Geh und
kämpf für mich! Finanziere mich!“
## Antworten und weiche Socken
Größer müssen die Typen sein, unbedingt auch älter, dicker, stärker,
behaarter, dunkler, wütender – reicher erwähnt der Text dann nicht auch
noch, es bleibt schon beim Archaischen. Und sie müssen einen Zufluchtsort,
ein Zuhause bieten. Sie müssen Antworten haben und hergeben, dazu übergroße
Pullover und weiche Socken, die Rolle des Fürsorgers übernehmen, wenn es
draußen zu kalt, zu warm, zu hell, zu dumpf, zu real wird.
Allerdings, harte Sache: Letztlich geht es halt auch dabei nur um Sex und
Unterwerfung – was das Bild des Beschützers, der ritterlich die eigenen
Interessen unterdrückt, sofort umkehrt und zur fiesesten Lüge überhaupt
gerinnen lässt. Die dann gemeinsam mit Darsteller Latifi ebenfalls spuckend
und weinend kopfüber im blubbernden Blut-und-Sperma-Tümpel in der
Bühnenmitte baden geht.
Ja, das war ein anstrengender Abend, der die Zuschauer in die Distanz
treibt und fix und fertig macht. Die Kammerspiele versehen die Uraufführung
zwar mit einer Triggerwarnung, die Menschen mit Missbrauchserfahrung die
Gelegenheit gibt, das Stück zu meiden – und beiläufig auch gleich ein wenig
Marketing betreibt für alle anderen.
In hitzigen Worten schicken die schnellen Assoziationsfolgen das Publikum
eineinhalb Stunden lang durch eine innere Hölle. Wer es nicht aushält,
verlässt den Saal. Wer aber bleibt, den reißt es beim Schlussapplaus dann
auch vom Sitz.
12 Oct 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Johanna Schmeller
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