# taz.de -- Explizites Liebes-Theater in Hannover: Selbstbeschimpfung on point | |
> Spektakulärer Text über kriselnden Feminismus: Julia Wissert inszeniert | |
> Sivan Ben Yishais „Liebe / Eine argumentative Übung“ am Schauspiel | |
> Hannover. | |
Bild: Olivia plus Selbstzweifel: Mariann Yar, Tabitha Frehner, Viktoria Miknevi… | |
Olivia weiß, wie man Emanzipation performt. Sie ist ja nicht doof. Oder | |
vielleicht ist sie's auch gerade doch, weil es ihr ja darum geht, diese | |
Emanzipation so zu performen, dass „er nichts merkt“. Damit ausgerechnet | |
„er“ nicht mitkriegt, wie unglücklich sie ist und unzufrieden und wie sie | |
fast wahnsinnig wird über der Frage, ob ihre Vagina stinkt. Oder warum | |
sonst ihr Freund, also Popeye der Seemann, sie nicht lecken will. | |
Vielleicht ging das jetzt zu schnell. Aber andererseits hat in „Liebe / | |
Eine argumentative Übung“ eh nichts verloren, wer Probleme mit hohem Tempo | |
und unvermittelten Einstiegen und genitalen Gerüchen hat. Denn davon ist | |
[1][Sivan Ben Yishais] Text randvoll, woran auch die Inszenierung von Julia | |
Wissert im Staatstheater Hannover nichts ändert. Im Gegenteil. | |
Es geht um Olive Oyl – im Stück „Frau Öl“ –, diese Cartoonfigur mit r… | |
Bluse, flacher Brust, Knollnase und schwarzem Haar, die man als Freundin | |
von [2][Seemann Popeye] kennt und sonst nicht weiter. „Du siehst aus wie | |
ein abgebranntes Streichholz“, sagt sie einmal über sich selbst, was ein | |
bisschen gemein ist, aber zweitens auch wahr und drittens lustig. Überhaupt | |
spricht sie viel über sich selbst an diesem Abend und ist dabei selten | |
freundlich. Man könnte umgekehrt auch sagen: Das Stück ist Olivias fast | |
zweistündige Selbstbeschimpfung, ein innerer Monolog im Chor, der eine | |
ungesunde Beziehung zerlegt und in mitunter schmerzhafter Offenheit | |
verhandelt, wie der doppelte Anspruch feministisch, aber auch glücklich zu | |
sein, eine:n in den Wahnsinn treiben kann. | |
## Abrechnung mit dem Chauvinismus | |
Als Olivia plus Selbstzweifel stehen Tabitha Frehner, Christine Grant, | |
Viktoria Miknevich und Mariann Yar auf der Bühne – die über den etwas lang | |
geratenen Einstieg erstmal wirklich nur stehen. Naja, und reden. Schlimm | |
ist das nicht, der spektakuläre Text wäre notfalls auch allein schon | |
schwindelerregend, aber es fühlt sich doch besser an, als die Sache später | |
Fahrt aufnimmt. | |
Wobei das Problem zum Teil auch in den Augen des Betrachters liegen könnte, | |
der diese Verschiebung erstmal hinbekommen muss: einzusehen, dass der Text | |
zwar an der Oberfläche als Abrechnung mit dem Chauvinismus hundert Jahre | |
alter Popkultur daherkommt – dass aber von Autorin und Regisseurin, | |
Performerinnen und dem restlichen Hannover nun wirklich klar ist, dass der | |
Popeye-Stoff ein alter Schinken ist. Gerade deshalb ist es ja auch so | |
finster, Probleme und Zustände von heute darin wiederzufinden. | |
Auf der von För Künkel als Hügellandschaft aus goldenen Brüsten | |
eingerichteten Bühne spielen die Performerinnen einander passgenau die | |
Stichworte zu. Sie streiten über dieses, verhandeln jenes, üben sich in | |
Kritik und Solidarität und sowas wie solidarischer Selbstkritik. Was | |
schwerer ist, als es vielleicht klingt. | |
Schon für den Text, dessen Autorin übrigens in diesem Jahr [3][den | |
Theaterpreis Berlin erhalten wird], ist das eine Herausforderung: Über das | |
Private zu reden und über die doppelten Zwänge, denen man (und vor allem | |
frau) von heteronormativer Gesellschaft und emanzipatorischem | |
Selbstverständnis zugleich ausgesetzt ist. Der Fallstrick ist ja da, jenem | |
Gesindel noch Argumente zu liefern, das ausgerechnet den Feminismus als | |
Überforderung der Frau abschaffen und sie zurück in Sicherheit zwischen | |
Herd und Kind verfrachten will. Also: Die Reaktion lauert zwischen den | |
Zeilen – deshalb ist Olivia ja auch so aufgekratzt –, und um es ganz dicke | |
zu sagen: Es geht in den Nuancen ums Ganze. | |
## Verachtung noch für den Selbsthass | |
Und auf die konzentriert sich Julia Wisserts Inszenierung dann auch, statt | |
den Text noch weiter mit Kontext zu beladen oder zu rahmen. Ausgesprochen | |
dynamisch setzen sich die vier Olivias miteinander ins Benehmen. Besonders | |
Tabitha Frehner kitzelt noch beim Rausbrüllen der Wut subtilste Feinheiten | |
aus dem Text. Verachtung ist hier wohl das entscheidende Wort: gegenüber | |
sich selbst und gegenüber dem Selbsthass – gegen die kapitalistisch | |
vorgeformte Inwertsetzung der eigenen Begehrbarkeit, und gegen die nackte | |
Angst davor, irgendwann einsam unter der Leuchtstoffröhre eines anonymen | |
Krankenhauses verrecken zu müssen, weil man nicht mitspielen wollte, als es | |
noch gegangen wäre. Darum gehts. | |
Nur dass die Analyse, die „argumentative Übung“ eben, solche Fragen eben | |
nicht durchdringt, wenn sie den Körper übergeht. Während auf der Bühne die | |
goldenen Riesenbrüste immer weiter in ihre kantigen Bestandteile zerlegt | |
werden – vom Symbolischen ins Abstrakte überführt, wenn man so will –, | |
wird’s körperlich immer konkreter, weil dort ja doch das Schlachtfeld | |
liegt. Es ist ja wichtig, dass Finger manchmal nach Vagina riechen oder | |
nach Arsch. Dass Orgasmen hier mal nicht das Problem sind, weil Olivia eine | |
ist, „die kommt wie ein Mann“. Und dass ihr Problem gerade nicht nur darin | |
besteht, dass Popeye sie nicht leckt zwischen den Beinen – sondern dass sie | |
sich jetzt auch noch einen Kopf darüber machen muss, wie zahm und | |
langweilig dieser geheime Wunsch ist. „Schätzchen, das ist jetzt nicht die | |
extremste Begierde ever“, sagt sie so zu sich und schiebt gleich die | |
nächste Krise nach, weil: „Sogar Selbsthass sollte heutzutage on point | |
sein.“ | |
Und das ist er auch: in Sivan Ben Yishais Text genau wie in Hannovers | |
Schauspielhaus. So unerfreulich das in der Sache sein mag, so befreiend | |
wirkt es, dabei zuzugucken. „Wham Bam Thank You Mam“, wie Popeye sagen | |
würde. | |
25 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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