# taz.de -- Theaterstück „Bucket List“ in Göttingen: Wie umgehen mit dem … | |
> Mit „Bucket List“ reagierte die Dramatikerin Yael Ronen auf das Massaker | |
> vom 7. Oktober. In Göttingen wird daraus ein wuselig inszeniertes | |
> Musical. | |
Bild: Musicalisierung als Reiz und Problem: „Bucket List“ am Deutschen Thea… | |
Göttingen taz | Muss man das wissen? Gerade als ein jüdisch-israelisches | |
Team seinerzeit die Proben zu einer [1][Stückentwicklung an der Berliner | |
Schaubühne] begonnen hatte, schlachteten am 7./8. Oktober 2023 | |
islamistische Hamas-Anhänger mehr als 1.200 israelische Zivilist:innen, | |
vergewaltigten und verschleppten Tausende. | |
„Bucket List“ sollte Yael Ronens in Arbeit befindliches Theaterstück | |
betitelt sein: eine Auseinandersetzung mit den Listen, die Menschen anlegen | |
mit dem, was sie bis zu ihrem Tod noch alles erlebt haben wollen. | |
Das Thema entglitt, der Titel blieb: In Berlin wurde „Bucket List“ zu einem | |
verzweifelten Versuch, einen Umgang mit dem nach 1945 beispiellosen | |
antisemitischen Terror zu finden. Anderthalb Jahre später wagt das Deutsche | |
Theater Göttingen eine Neuinszenierung – ohne groß auf die Vorgeschichte | |
einzugehen. | |
Regisseur Aureliusz Śmigiel und Choreograf Valentí Rocamora i Torà | |
versuchen ganz allgemein einen Abend über Menschen mit | |
[2][Posttraumatischer Belastungsstörung] (PTBS) auf die Bühne zu bringen. | |
Dabei geht es nicht nur um die psychischen Folgen von militärischen | |
Auseinandersetzungen, Folter, [3][Flucht], Naturkatastrophen, Terror und | |
Gewalt, sondern irgendwie um uns alle: Vom boomenden PTBS-Markt ist nun die | |
Rede, von den Umsatz-Milliarden für Antidepressiva, Therapien, | |
spezialisierten Kliniken. | |
Zunächst stimmen die vier Schauspieler:innen ein Kriegslied an: „Down | |
to the bottom of a bleeding field / where flashes cut the sound of speed / | |
Replacing fear with fear / Inflicting every soul and every thing / War | |
sings.“ Dazu steht ein Kämpfer (Leonard Wilhelm) an der Rampe und weiß | |
nicht so recht: „Am Samstagmorgen wachte ich unter den Trümmern meiner | |
vergangenen Realität auf.“ | |
Von klaffender Leere geht die Rede, von Stille im Kopf. Aber der Mann ist | |
nicht tot, sondern hat sich entschieden, die Traumatisierung auszugrenzen, | |
ja, von seiner Erinnerungsfestplatte löschen zu lassen. | |
Möglich macht die Realitätsflucht das Science-Fiction-Unternehmen | |
„Zeitgeist“: Es füllt die Lücken mit der Vergangenheit anderer Menschen | |
auf. Aber der Gedächtnisversehrte bekommt die Erinnerungsfetzen nicht | |
zusammen. Ist das, was ihm ins Bewusstsein ploppt, fantasievolle Ergänzung, | |
reine Erfindung, implantiert oder wirklich? | |
Seiner Fragmente-Puzzle-Version begegnet auf der Bühne der dabei | |
vorgestellte Robert; dass dazu drei Tänzer:innen (Tirza Ben Zvi, Germán | |
Hipolito Farías und Paweł Malicki) „Liebe“, „Kind“ sowie „Rausch“ | |
verkörpern und entsprechend in die Szenen toben, fügt den narrativen | |
Schnipseln meist nur illustrative Bewegung hinzu. Dialogisch ist die | |
Aufführung eher rudimentär entwickelt, es wird ein Lied nach dem anderen | |
zelebriert, von Shlomi Shaban mal in Tango, mal in Blues, mal in Softrock | |
gewandet. | |
Die Musicalisierung ist der Reiz des Abends – und sein Problem: Sie bietet | |
einen Klang- als herrlich offenen Assoziationsraum. Aber nur, wer die | |
deutsch übertitelten Songtexte mitliest, dem vermitteln sich auch Inhalte – | |
in verschlüsselnder Singer-Songwriter-Poesie. | |
„Bucket List“ bietet also tolle Musik und triggerwillige Lyrics in einer | |
wuseligen Inszenierung – die überraschend endet: Plötzlich ist das | |
Bühnenpersonal entspannt, hält Händchen, lässt den Saal illuminieren, | |
klettert durchs Parkett und nimmt neben Zuschauer:innen oder auf ihren | |
Schößen Platz. Lächelt liebevoll. Und singt: „You never stop imagining“. | |
Aller seelischen Verletzungen und globalen Krisen zum Trotz wird an die | |
Vorstellungskraft appelliert. Unkonkret. Schutzlos. Aber so freundlich und | |
sanft, dass das Finale einer Umarmung des Publikums gleichkommt. | |
Sehnsuchtskitzel einer noch auszubrütenden Hoffnung. Heftig zustimmender | |
Applaus. | |
5 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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