# taz.de -- Folgen des 7. Oktobers: Das Leid der Überlebenden | |
> Viele Besucher*innen des Nova-Festivals leiden unter psychischen | |
> Problemen. Nun macht die erste Familie den Suizid einer Überlebenden | |
> öffentlich. | |
Bild: Menschen besuchen den Ort des Nova-Musikfestivals am einjährigen Jahrest… | |
Berlin taz | Shirel Golan tanzte gerne. „A different world …“, so | |
kommentierte sie einen Instagram-Beitrag zu einem kleinen Rave in der | |
südisraelischen Wüste, den sie 2020 besucht hatte. Sie lächelt und hält | |
einen roten Fächer hoch in der prallen Sonne. Ihr schwarzes Outfit würde | |
genauso gut zum Berliner Berghain passen wie zu einem Psytrance-Rave in | |
Israel. | |
Nach dem Vortex-Festival 2021 am Toten Meer schrieb sie „No words needed“ | |
mit Herz- und Feueremoji. Dazu ein Foto der psychedelischen Sonnensegel | |
über der Tanzfläche, die optisch auch vom Nova-Festival hätten stammen | |
können, das Golan am 7. Oktober 2023 mit ihren Freund*innen besucht hatte. | |
Am Sonntag, den 20. Oktober, ein Jahr nach dem Nova-Massaker, das sie | |
überlebt hatte, wurde sie zu Hause tot aufgefunden. Sie hatte sich das | |
Leben genommen. Es war ihr 22. Geburtstag. Dem [1][Massaker beim | |
Nova-Festival], bei dem schwerbewaffnete Kämpfer der Hamas und anderer | |
palästinensischer Terrororganisationen mindestens 364 Menschen ermordet, 38 | |
nach Gaza verschleppt und unzählige vergewaltigt hatten, war Golan nur | |
knapp entkommen. | |
Um 6.29 Uhr ging die Musik aus. Golan und ihr Partner versuchten zunächst, | |
in einem Auto zu fliehen. Doch sie verließen das Fahrzeug wieder und | |
versteckten sich stattdessen stundenlang im Gebüsch, bis ein Polizist sie | |
fand und rettete. Die elf Insassen des Autos, mit dem sie hatten fliehen | |
wollen – Freund*innen von ihnen – wurden alle von den Terroristen | |
ermordet. | |
## Tödlichster Angriff seit Holocaust | |
Israelis nennen den [2][7. Oktober] inzwischen [3][den „schwarzen | |
Shabbat“]. So viele Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an | |
einem Tag getötet worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und | |
anderer Gruppen wie Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur | |
Befreiung Palästinas“ ermordeten fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon | |
Zivilisten. | |
Es ist der tödlichste Angriff aller Zeiten auf ein Musikfestival. Auch das | |
kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wurde angegriffen. | |
Rund 250 Menschen wurden entführt, bis heute sind etwa 100 von ihnen noch | |
in Geiselhaft. Ein Deal mit der Hamas für ihre Freilassung scheint auch | |
nach dem Tod von Jahia Sinwar, dem Chef der Terrororganisation, in weiter | |
Ferne zu sein. | |
In den Wochen und Monaten nach dem Angriff habe sich Golan immer mehr | |
zurückgezogen, habe angefangen, sich zu dissoziieren, berichtet ihre | |
Familie. Sie habe Symptome einer [4][posttraumatischen Belastungsstörung] | |
gezeigt. Eine offizielle Diagnose habe sie nie bekommen, obwohl sie nach | |
dem 7. Oktober zweimal ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Ihre | |
Mutter sei in den Vorruhestand gegangen, damit die Familie besser auf sie | |
aufpassen könne. | |
„Wir haben uns keinen Millimeter von ihr entfernt, und das einzige Mal, | |
dass wir sie allein gelassen haben, war heute, und sie hat beschlossen, | |
sich das Leben zu nehmen“, sagte Golans Bruder Eyal dem israelischen | |
Nachrichtensender Keshet 12 am Sonntag. | |
## Unterstützung fehlt | |
Eyal Golan macht der Regierung nun schwere Vorwürfe. Er sagt, dass seine | |
Schwester keine Hilfe vom israelischen Staat bekommen habe. Man habe sie im | |
Stich gelassen und müsse jetzt „aufwachen“, sagte er, sonst könne es | |
weitere Suizide geben. Das israelische Ministerium für Wohlfahrt und | |
Soziales hingegen behauptete in der Zeitung Haaretz, dass es Unterstützung | |
für Überlebende auf vielfältige Art und Weise biete. | |
Wie viele Überlebende des Nova-Festivals sich bereits das Leben genommen | |
haben, ist nicht öffentlich bekannt. Bei einer Anhörung im Parlament im | |
Dezember sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, | |
die zum Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“, konnte aber | |
auf taz-Anfrage keine konkrete Zahl nennen. | |
In einer Pressemitteilung des israelischen Gesundheitsministeriums im | |
Januar hieß es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es weniger | |
Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf | |
taz-Anfrage will das Ministerium die Zahlen jedoch nicht konkretisieren. | |
In einer weiteren Anhörung im April behauptete ein Nova-Besucher, dass 50 | |
Festival-Besucher*innen Selbstmord begangen hätten, eine Zahl, der das | |
Gesundheitsministerium schnell widersprach. „Wir müssen vorsichtig sein mit | |
Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad | |
Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im | |
Ministerium. | |
## Medizinisches Neuland | |
Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung | |
der Anonymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Suizidfällen unter | |
Nova-Überlebenden aus. | |
In Israel ist Suizid ein Tabu, er ist im Judentum nicht erlaubt. Und nach | |
dem sogenannten Werther-Effekt können Selbstmordfälle steigen, wenn darüber | |
in den Medien berichtet wird. Die Familie Golan ist die erste, die bislang | |
öffentlich über einen Suizid unter Nova-Überlebenden gesprochen hat. Aber | |
sie ist nicht die einzige, die davon betroffen ist. | |
Die psychologische Behandlung von Nova-Überlebenden ist dabei medizinisches | |
Neuland. Sie berichten von Vergewaltigungen, Folter, Enthauptungen und | |
Leichenschändungen. Und noch nie wurden so viele Menschen unter dem | |
Einfluss von Drogen, darunter auch bewusstseinsverändernden Substanzen wie | |
LSD, stark traumatisiert. | |
Das betrifft rund 70 Prozent der 3.500 Festival-Besucher*innen, die den | |
Angriff überlebten, sagt die NGO SafeHeart, die nach dem 7. Oktober von | |
Menschen aus der Festivalszene gegründet wurde, von Spenden finanziert wird | |
und mit Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen eng | |
zusammenarbeitet. | |
## Spezialisierte Angebote | |
SafeHeart will die Überlebenden mit Therapieangeboten und neuen | |
psychologischen Ansätzen unterstützen. „Diese spezialisierte Behandlung ist | |
im öffentlichen Gesundheitswesen derzeit nicht verfügbar“, heißt es in | |
einer Pressemitteilung der Organisation von diesem Monat. | |
Mehr als 18.000 Therapiestunden habe die Organisation im vergangenen Jahr | |
durchgeführt. Eine wichtige Komponente der Behandlung seien | |
Gruppentherapien, in denen Überlebende gemeinsam ihre Erlebnisse | |
verarbeiten können. | |
Diese Arbeit könne auch Betroffenen anderer globaler Krisen helfen, sagt | |
die Organisation. Zusammen mit der Universität Haifa forscht SafeHeart zu | |
Traumata, die während veränderter Bewusstseinszustände erlebt werden. 1.250 | |
Nova-Überlebende nehmen an der Studie teil. In einer weiteren Studie des | |
Sheba Medical Center in Tel Aviv werden 400 Patient*innen, die an | |
posttraumatischen Belastungsstörungen leiden – darunter viele | |
Nova-Besucher*innen – mit einer MDMA-Therapie behandelt werden. | |
Auch die Stiftung Tribe of Nova, die nach dem Angriff von den Überlebenden | |
und Angehörigen der Ermordeten gegründet wurde, will die Überlebenden des | |
Festivals unterstützen. Sie bietet „alternative Heilungsworkshops“, vergibt | |
Zuschüsse für Behandlungen und organisiert Gedenkveranstaltungen, um | |
Überlebenden dabei zu helfen, ihr Trauma zu verarbeiten. | |
## Überlebende nutzen Therapieangebote | |
Dazu gehören auch kleinere Partys: „Weil das wichtig ist, um eine | |
posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern“, sagte im September eine | |
Nova-Überlebende, die bis heute an Panikattacken leidet, gegenüber der taz. | |
2.800 Nova-Überlebende hätten mindestens schon eine der Veranstaltungen | |
besucht, so die Stiftung. | |
Für Shirel Golan ist es zu spät. Ihr Instagram-Profil zeugt von einer | |
lebensbejahenden jungen Frau, die die Welt entdecken wollte. „To travel is | |
to live“, schrieb sie im Februar aus dem Urlaub in Thailand. „Früher war | |
sie voller Freude, war immer die Stimmungskanone der Party“, sagte ihr | |
Bruder Eyal auf ihrer Beerdigung am Montag. „Danach war sie nicht mehr | |
dieselbe.“ | |
„Ich vermisse sie so sehr“, sagte weinend die 28-jährige Yael Tobol, die | |
das Nova-Festival auch überlebte und Golan gut kannte. Auch sie leide bis | |
heute an den Folgen des Massakers. „Keiner weiß, was ich nachts durchmache. | |
Alles, was wir wollen, ist, dass sie uns helfen. Sie haben uns im Stich | |
gelassen.“ | |
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche | |
und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste | |
psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf unter 112 | |
an. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter | |
[5][taz.de/suizidgedanken.] | |
22 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
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