| # taz.de -- Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Der schwarze Shabbat | |
| > Am 7. Oktober 2023 ermordete die Hamas 364 Menschen beim Nova-Festival. | |
| > Ein Jahr später leiden Überlebende immer noch an den Folgen dieses Tages. | |
| Um 6.29 Uhr geht die Musik aus. Dann Sirenen, Explosionen, Schreie. Omer | |
| Hadad und seine Freunde sind erst drei Stunden vorher angekommen, in | |
| wenigen Minuten soll die Sonne aufgehen – der berauschte Höhepunkt des | |
| Psytrance‑Raves. Doch als Hadad einen mit Schusslöchern übersäten Fiat | |
| sieht, fühlt er sich plötzlich stocknüchtern. Ob die blutenden Insassen des | |
| Autos zu diesem Zeitpunkt schon tot sind, kann er nicht sagen. Er rennt um | |
| sein Leben. | |
| Sechs Monate nach dem Massaker vom 7. Oktober, das Israel erschüttert hat, | |
| wird Omer Hadad immer noch von diesen Szenen heimgesucht. Es ist ein warmer | |
| Aprilabend in Tel Aviv. Der 24-Jährige ist Friseur, er hat gerade | |
| Feierabend und sitzt auf einem Ledersessel im Salon. Er trägt eine | |
| militärische Erkennungsmarke um den Hals mit Davidstern – ein | |
| Solidaritätszeichen für die Geiseln in Gaza. Seine dunkelbraunen Augen | |
| sehen müde und traurig aus. | |
| Hadad hat noch nicht oft gesprochen, über das, was er an diesem Tag | |
| erlebte. Und es fällt ihm merklich schwer. Er zeigt ein Video seiner Flucht | |
| vor Hamas-Terroristen, aufgenommen versehentlich, in Panik: Hunderte | |
| spärlich bekleidete Menschen fliehen über Felder, Hadad selbst trägt ein | |
| weißes Outfit, irgendwas zwischen Cape und Bademantel. Schüsse sind zu | |
| hören. „Wir waren im Überlebensmodus“, sagt er mit schüchterner Stimme. | |
| Eine Freundin stolpert in der Handyaufnahme immer wieder beim Laufen, weil | |
| sie sich übergeben muss, aus schierer Angst, bevor sie auf dem Boden | |
| zusammenbricht. „Überall um uns herum lagen Menschen auf dem Boden“, sagt | |
| Hadad. „Wir dachten, dass auch sie Panikattacken hätten.“ Erst später wird | |
| klar: Sie sind bereits tot. | |
| Die Entscheidungen, die die größtenteils jungen Menschen in den nächsten | |
| Minuten und Stunden treffen, bestimmen, ob sie leben oder sterben: links | |
| oder rechts, sich verstecken oder fliehen, mit dem Auto oder zu Fuß. | |
| Dass Hadad das [1][Massaker beim Nova-Festival] überlebt, ist Zufall. Oder | |
| etwas anderes. Er schaut nach oben, obwohl er, wie er sagt, nicht besonders | |
| gläubig ist. Er findet schließlich sein Auto und fährt über die Felder nach | |
| Netiwot, einer Stadt knapp 20 Kilometer entfernt, die von den Gräueltaten | |
| vom 7. Oktober wie durch ein Wunder verschont bleibt. Zwei von Hadads | |
| Freunden schaffen es nicht. | |
| ## 38 Geiseln werden vom Nova-Festival entführt | |
| Israelis nennen den 7. Oktober inzwischen den „schwarzen Shabbat“. So viele | |
| Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an einem Tag getötet | |
| worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und anderer Gruppen wie | |
| Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“ | |
| ermorden fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon Zivilisten. | |
| Das Nova-Festival in der Negevwüste, das Omer Hadad und seine Freunde | |
| besuchten, ist der blutigste Schauplatz des Angriffs. 364 Menschen kommen | |
| dort ums Leben, fast die Hälfte aller getöteten Zivilisten an diesem Tag. | |
| Sie werden mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Granaten ermordet. Es | |
| ist der tödlichste Angriff auf ein Musikfestival aller Zeiten. Auch das | |
| kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wird angegriffen. | |
| Dort ermorden die Terroristen 17 Menschen. | |
| Von den rund 250 Geiseln, die palästinensische Terroristen nach Gaza | |
| verschleppen, werden mindestens 38 vom Nova-Festival entführt. Fünf von | |
| ihnen kommen im November durch einen Deal mit der Hamas frei, die | |
| israelische Armee befreit weitere vier im Juni. | |
| Ende August werden die Leichen von fünf Festival-Besucher*innen sowie einer | |
| weiteren Entführten in einem Tunnel unter Rafah gefunden, die kurz zuvor | |
| per Kopfschuss hingerichtet wurden. Sechs weitere Menschen sind bislang in | |
| Geiselhaft ums Leben gekommen. 18 Menschen, die vom Nova-Festival entführt | |
| wurden, hält die Hamas bis heute in Gaza fest. | |
| Der Angriff vom 7. Oktober wird mit einer Raketensalve aus dem Gazastreifen | |
| eingeläutet. Palästinensische Terroristen brechen durch den Grenzzaun zu | |
| Israel. Mit Gleitschirmen und Pickup-Trucks erreichen sie das Nova-Gelände | |
| beim Kibbuz Re’im, wo fast 4.000 Menschen aus über 30 Ländern am jüdischen | |
| Feiertag Simchat Torah unter freiem Himmel tanzen – eine Zusammenarbeit des | |
| brasilianischen Universo Paralello und des israelischen Nova-Teams. | |
| ## Viele Besucher stehen unter Drogen | |
| Mit GoPros filmen die Terroristen das Blutbad, das sie dort anrichten. In | |
| einem Video schießen sie auf eine Reihe Dixi-Klos, in denen sich Menschen | |
| verstecken, Tür für Tür, als sei das ein Ego-Shooter-Spiel. Eine Dashcam | |
| auf dem Parkplatz zeigt, wie ein Terrorist einen auf dem Boden liegenden | |
| Mann, der sich tot stellt, aus nächster Nähe hinrichtet. | |
| In einem Video werfen sie eine Granate in einen kleinen Luftschutzbunker, | |
| auf Hebräisch Migunit genannt, in dem rund 30 Menschen Schutz suchen. Nach | |
| der Explosion erschießen sie die wenigen Überlebenden. Einen jungen Mann | |
| verschleppen sie nach Gaza. [2][Er heißt Hersh Goldberg-Polin] und gehört | |
| zu den hingerichteten Geiseln, die Ende August in einem Tunnel unter Rafah | |
| gefunden werden. | |
| Manche Gäste rennen zu ihren Autos und fahren Richtung Ausgang, doch sie | |
| landen in einer Falle. Terroristen blockieren die Regionalstraße 232, die | |
| parallel zum Gelände verläuft, von beiden Seiten. Die fliehenden Besucher | |
| geraten unter schweren Beschuss. Heute nennen Israelis sie die „Straße des | |
| Todes“, weil hier Dutzende Menschen ums Leben gekommen sind. Bis heute sind | |
| Brandspuren auf dem Asphalt zu sehen. Ein Denkmal aus Hunderten von | |
| ausgebrannten Autos erinnert daran. | |
| Viele der Nova-Besucher stehen unter dem Einfluss von Drogen wie MDMA, | |
| Kokain oder Amphetaminen. Bei Menschen, die LSD genommen hatten, sei ein | |
| „Überlebensinstinkt“ eingetreten, sagt der Psychologe Ran Sapir, der | |
| Überlebende des Festivals behandelt hat, im Interview mit der israelischen | |
| Zeitung Ha’aretz. Eine dachte, sie sei ein gejagtes Tier, das den Jägern | |
| entkommen müsse. Menschen, die Ketamin genommen hatten, hätten schlechtere | |
| Überlebenschancen gehabt. | |
| Auch die Terroristen sind im Rausch: Sie haben Captagon-Tabletten dabei, | |
| die wie Amphetamin wirken und ihnen dabei helfen, lange wach zu bleiben und | |
| Menschen ruhig und konzentriert abzuschlachten oder ihnen sexualisierte | |
| Gewalt anzutun. | |
| Viele der [3][bislang dokumentierten Vergewaltigungen] ereignen sich beim | |
| Nova-Festival. Videos der Erstversorger zeigen tote Frauen mit entfernter | |
| Unterhose oder blutigem Schritt. Die Hände mancher Opfer sind festgebunden. | |
| Die Ha’aretz berichtete im April von 15 Überlebenden des Festivals, die | |
| Vergewaltigungen oder Gruppenvergewaltigungen gesehen hätten, fünf von | |
| ihnen haben bislang öffentlich darüber gesprochen. | |
| ## Vergewaltigungen und Verstümmelungen | |
| Eine Zeugin vom Festival schildert gegenüber der New York Times, wie | |
| schwerbewaffnete Männer mindestens fünf Frauen vergewaltigt und getötet | |
| hätten. Während eine Frau vergewaltigt worden sei, habe einer der Männer | |
| ihre Brust mit einem Teppichmesser abgeschnitten und diese zu einem anderen | |
| Mann geworfen. Die Zeugin habe auch gesehen, wie die Männer die Köpfe | |
| dreier enthaupteter Frauen mit sich getragen hätten. | |
| Viele der bekannten Vergewaltigungsfälle finden am Rande des | |
| Festivalgeländes statt, beobachtet von Überlebenden, die sich gut | |
| verstecken konnten. Wie viele Menschen an diesem Tag tatsächlich sexuell | |
| missbraucht worden sind, ist unklar. Erstversorger der ultraorthodoxen | |
| Organisation Zaka beerdigen die Leichen aus religiösen Gründen schnell, sie | |
| werden teilweise mit Lastwagen abtransportiert. | |
| Heute sieht das Nova-Gelände aus wie eine Mischung aus Friedhof und | |
| Freiluftattraktion. Am Eingang stehen reihenweise weiße Autos in der | |
| prallen südisraelischen Sonne. Dutzende Menschen schlängeln sich trauernd | |
| und nachdenklich über die trockene Fläche, von Bäumen umrahmt, die einst | |
| eine Tanzfläche war. An Stangen hängen die Fotos und Namen der Ermordeten | |
| mit blau-weißen Israel-Flaggen, die im warmen Wind leicht flattern. Vorne | |
| steht eine DJ-Pult-Attrappe, um an Kido zu erinnern, einen bekannten | |
| israelischen Trance-DJ, der beim Anschlag ermordet wurde. | |
| Es sind insgesamt vielleicht 200 Menschen auf dem Gelände – trauernde | |
| Eltern, eine diplomatische Delegation, eine Gruppe von Soldaten, | |
| Ultraorthodoxe der Chabad-Bewegung, die in einem Bus Shabbat-Kerzen und | |
| koschere Snacks verteilen. So viele Menschen, dass sie ein | |
| Sicherheitsrisiko darstellen. Denn im Gazastreifen, nur fünf Kilometer | |
| Luftlinie entfernt, tobt der Krieg zwischen Hamas und Israel, am Horizont | |
| sind leichte Rauchspuren zu sehen. Auf dem Festivalgelände wurden | |
| inzwischen zwei mobile Migunit-Bunker und eine Luftsirene eingebaut. Wenn | |
| schon wieder Raketen aus dem Küstenstreifen fliegen, hat man hier nur | |
| Sekunden Zeit, um Schutz zu suchen. | |
| ## Nicht alle wollen erinnern | |
| Das Nova-Gelände ist zum Denkmal geworden, zur Erinnerung an ein Massaker, | |
| das für die Menschen in Israel noch immer eine offene Wunde ist. Zwei | |
| israelische Dokumentarfilme zum Festival sind bereits entstanden: „Black | |
| Sunrise“ und „#Nova“. Zum israelischen Unabhängigkeitstag im Mai | |
| produzierte das Büro für Staatszeremonien und Veranstaltungen einen Clip, | |
| der für Kontroversen sorgte – eine Art Musikvideo mit Tanzsequenzen, | |
| gedreht am Tatort des Massakers, das Angehörigen der Ermordeten als | |
| „beschämend“ und „entsetzlich“ empfanden. | |
| Positiver rezipiert wird eine Ausstellung der Festival-Organisatoren mit | |
| dem Titel „06:29 – The Moment the Music Stood Still“, die im April in der | |
| Tel Aviver Messehalle Expo eröffnet wurde, bevor sie nach New York und Los | |
| Angeles wanderte. Sie stellt das Gelände direkt nach dem Massaker nach, mit | |
| ausgebrannten Autos, Dixi-Klos mit Schusslöchern und den Sachen, die | |
| fliehende oder verstorbene Besucher*innen hinterließen – Schuhe, | |
| Sonnenbrillen, Taschen. | |
| Auch beim diesjährigen Burning Man Festival, das von Ende August bis Anfang | |
| September in der Nevada-Wüste stattfand, wurde der Ermordeten des Nova mit | |
| einer Kunstinstallation gedacht – einem Nachbau der | |
| psychedelisch-farbenfrohen Bühne mit den Worten „We will dance again“. | |
| „Das war für uns sehr wichtig“, erzählt Nova-Veranstalter Omri Sasi, der | |
| beim Angriff über 100 Freund*innen sowie seinen Onkel und Cousin verlor. | |
| Auf der Nova-Bühne beim Burning Man legte er mit DJ Captain Hook auf, von | |
| 6.29 Uhr bis zum Nachmittag. „Leute haben geweint“, sagt der 35-Jährige, | |
| der die Nova-Reihe vor drei Jahren ins Leben rief. Auch nächstes Jahr soll | |
| das Nova beim Burning Man vertreten sein, sagt er. „Wir wollen nicht | |
| aufgeben und werden weiter tanzen. Der Terrorismus darf nicht gewinnen.“ | |
| Doch [4][nicht alle wollen erinnern]. Vor der Nova-Ausstellung in New York | |
| organisierten im Juni Hunderte antiisraelische Aktivisten einen Protest. | |
| Sie zündeten Rauchtöpfe und skandierten „long live the intifada“ – es l… | |
| die Intifada. Eine Aktivistin begründete die Aktion auf X (ehemals Twitter) | |
| damit, dass das Nova „neben einem Konzentrationslager“ stattgefunden habe. | |
| Ähnliche Kommentare waren in den Tagen und Wochen nach dem Massaker in den | |
| sozialen Medien tausendfach zu lesen. Die Botschaft: Die Opfer des | |
| Massakers seien selbst schuld. | |
| In der globalen Festival- und Clubszene ist seit dem 7. Oktober Solidarität | |
| mit den Ermordeten, Verschleppten und Überlebenden des Novas [5][kaum | |
| hörbar]. Stattdessen fasst die antiisraelische Boykottbewegung BDS dort | |
| immer mehr Fuß – und die Szene radikalisiert sich immer weiter. Eine | |
| Benefizparty in New York, nur eine Woche nach dem Massaker, nannte sich | |
| „Intifada Fundraver“ und warb mit einem Foto, in dem die Hamas mit einem | |
| Bagger den Grenzzaun zu Israel durchbricht. | |
| Im Februar wurde die Kampagne „DJs Against Apartheid“ gestartet, die | |
| inzwischen über 3.000 DJs weltweit unterstützen. In dem Aufruf wird die | |
| Gewalt der Hamas als „natürliche“ und „unausweichliche“ Reaktion | |
| bezeichnet. Und [6][in Berlin] sieht sich das renommierte Berghain einer | |
| Boykottkampagne ausgesetzt, nachdem der Club einen DJ auslud, der zuvor | |
| eine Instagram-Story geteilt hatte, in der die Vergewaltigungen beim | |
| Nova-Angriff geleugnet wurden. | |
| ## Mit Panzerfäusten beschossen | |
| Über all das kann Yarin Illovich nur mit dem Kopf schütteln. Der 29-jährige | |
| Israeli ist besser bekannt als der Psytrance-Künstler Artifex. Als die | |
| Terroristen das Nova-Festival überfallen, steht er am DJ-Pult – er ist der | |
| Headliner zum Sonnenaufgang. „Das war ein Genozid bei einem verdammten | |
| Musikfestival“, sagt er via Zoom. „Wäre nicht die jüdische Community hier | |
| betroffen, wäre zum Beispiel Tomorrowland oder Electric Daisy Carnival | |
| angegriffen, würde die Welt ganz anders reagieren.“ | |
| Anfang September, elf Monate nach dem Angriff. Illovich sitzt zu Hause in | |
| Kfar Yona, eine Stunde nördlich von Tel Aviv, er trägt ein T-Shirt der | |
| Fernsehserie „Rick and Morty“. Einige Bookings seien für den international | |
| tourenden DJ inzwischen weggebrochen, weil Veranstalter [7][aus Protest | |
| gegen den Gaza-Krieg] Israelis nicht mehr einladen wollen würden, sagt er. | |
| Den letzten Track, den Illovich am 7. Oktober auflegte, der von Sirenen, | |
| Explosionen und Schreien unterbrochen wurde, hat er inzwischen den | |
| Ermordeten gewidmet und kostenlos zur Verfügung gestellt. Mit einem | |
| Spendenaufruf will er die Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers | |
| unterstützen. „Nova Tribute – The Angel’s Last Dance“, so nennt er nun | |
| seinen Remix von Pixel und Space Cats „Clear Test Signal“ – ein | |
| energischer, trippiger Psytrance-Knaller. „Es war für die Ermordeten der | |
| letzte Moment des Glücks“, sagt er. | |
| Illovich habe seit dem Angriff gute und schlechte Tage. Heute scheint ein | |
| guter Tag zu sein, er redet offen über das Massaker, bei dem er 70 | |
| Freund*innen verlor. Nachdem er um 6.29 Uhr die Musik ausmachte, sei er | |
| über Felder geflohen, sei mit Panzerfäusten beschossen worden und habe sich | |
| fünf Stunden lang hinter einem Auto versteckt, als die Terroristen sich ein | |
| Feuergefecht mit der Polizei lieferten. Zehn Stunden habe es gedauert, bis | |
| er endlich in Sicherheit gewesen sei. | |
| Doch je näher der erste Jahrestag rückt, umso schlechter gehe es ihm. Für | |
| den 7. Oktober 2024 habe er alles abgesagt. „Ich will hier in Israel sein, | |
| mit meiner Familie, mit Freunden, mit den anderen Nova-Überlebenden“, sagt | |
| er. | |
| ## Viele Überlebende sind stark traumatisiert | |
| Die psychischen Folgen des 7. Oktober belasten die Überlebenden bis heute, | |
| viele sind stark traumatisiert. Laut der Tribe of Nova Foundation, einer | |
| NGO, die von Omri Sasa und den anderen Organisatoren direkt nach dem | |
| Angriff gegründet wurde, sind drei Viertel der fast 4.000 Besucher in | |
| psychologischer Behandlung. Die Stiftung plant Wochenend-Retreats und | |
| vergibt kleine Zuschüsse, um mit den Kosten für Therapien oder | |
| Rehabilitation zu helfen. Sie organisiert auch ein wöchentliches Treffen | |
| für Überlebende in einem Park in Tel Aviv. | |
| Secret Forest, ein abgelegenes Resort in den zyprischen Bergen, das von | |
| Israelis betrieben wird, organisiert kostenlose Therapiewochen für die | |
| Überlebenden. Bereits 700 von ihnen waren schon dort, auch Yarin Illovich. | |
| „In den ersten vier Monaten nach dem Massaker wollte ich weder auflegen | |
| noch ins Studio“, sagt er. Ein fünftägiger Aufenthalt mit über 150 anderen | |
| Überlebenden habe ihm geholfen, mit dem Trauma umzugehen. | |
| Auch Chen Malca nahm an einen Retreat im Secret Forest teil, nur drei | |
| Wochen nach dem Massaker. „Es war nicht nur Therapie“, erzählt die | |
| 25-Jährige aus Jerusalem mit mahagonifarbenen Haaren und gelb lackierten | |
| Nägeln. „Sie organisierten auch eine kleine Party für uns, weil das wichtig | |
| ist, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.“ | |
| Malca hat nach dem 7. Oktober ihren Job gekündigt und ihre Studienpläne auf | |
| Eis gelegt, stattdessen spricht sie mehrmals die Woche auf Veranstaltungen | |
| über das Nova-Festival, das sie nur knapp überlebte. Auf dem | |
| Festivalgelände erzählt sie regelmäßig ihre Geschichte vor kleinen Gruppen | |
| – wie sie in Panik fast erstarrt sei, wie sie und ihr Freund mit dem Auto | |
| nur mit Glück entkamen. Bis heute falle es ihr schwer, darüber zu sprechen, | |
| sagt Malca. Sie vergisst ständig Wörter und wechselt zurück ins Hebräische, | |
| wenn sie darüber redet – aus Aufregung, obwohl sie akzentfreies Englisch | |
| spricht. | |
| Malca sei inzwischen wieder auf kleine Festivals gegangen, das sei wichtig, | |
| sagt sie, aber auch belastend. „Auf einem Festival sah ich am Himmel | |
| Drohnen und Menschen, die mit Gleitschirmen geflogen sind“, erzählt sie. | |
| „Ich hatte eine Angstattacke, wollte aber meinen Freunden, die auch | |
| Nova-Überlebende sind, nicht zeigen, dass ich in Panik bin, um sie nicht zu | |
| beunruhigen.“ | |
| ## „Viele Suizide“ unter Nova-Besucher*innen | |
| Für manche Überlebende kommen psychologische Angebote zu spät. | |
| Nova-Veranstalter Omri Sasa sagt, dass der israelische Staat nicht genug | |
| tue, um Therapieplätze bereitzustellen. „Der Regierung ist nur der Krieg | |
| wichtig“, sagt er. | |
| Und das hat tragische Folgen. Bei einer Anhörung in der Knesset im Dezember | |
| sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, die zum | |
| Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“ unter | |
| Nova-Besucher*innen. Auf taz-Anfrage konnte sie allerdings nicht sagen, wie | |
| viele Fälle es genau gegeben hat. In einer weiteren Anhörung in der Knesset | |
| im April behauptete ein Nova-Besucher, dass sich seit dem 7. Oktober fast | |
| 50 Menschen das Leben genommen hätten. | |
| Das israelische Gesundheitsministerium widersprach dieser Zahl. „Uns sind | |
| nur wenige Fälle von Selbstmord bekannt. Wir müssen vorsichtig sein mit | |
| Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad | |
| Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im | |
| Ministerium, bei der Anhörung. In einer Pressemitteilung des Ministeriums | |
| im Januar heißt es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es | |
| weniger Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf | |
| taz-Anfrage will das Ministerium jedoch keine genauen Zahlen geben. | |
| Dass nicht offen über dieses sensible Thema gesprochen wird, hat auch | |
| Gründe. In Israel ist Suizid ein Tabu, im Judentum ist er nicht erlaubt. | |
| Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung | |
| der Anonymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Fällen unter | |
| Nova-Überlebenden aus, wollte aber keine konkrete Zahl nennen. | |
| Omer Hadad, der Friseur aus Tel Aviv, kennt einen Fall aus erster Hand. | |
| Eine Frau, die er auf dem Festival kennenlernte, habe er auf einem Treffen | |
| für Nova-Überlebende wiedergesehen. Er habe sich gefreut, dass sie es auch | |
| in Sicherheit geschafft habe. „Aber es ging ihr nicht gut.“ Im April habe | |
| sie sich das Leben genommen, so Hadad. | |
| Auch deshalb fühlt sich das Jahr nach dem 7. Oktober für Hadad und viele | |
| andere Überlebende an wie der ewige Tag danach. „Ich bin traurig“, sagt | |
| Hadad im September am Telefon. „Traurig, dass so viel Zeit vergangen ist | |
| und sich nichts geändert hat – es herrscht immer noch Krieg, die Geiseln | |
| sind immer noch nicht zurück.“ | |
| Zum ersten Jahrestag wolle er mit seinen Freunden, die den Angriff überlebt | |
| haben, denselben Weg jenes Tages zurücklegen: mit dem Auto die | |
| Regionalstraße 232 entlangfahren, die Straße des Todes, zum Nova-Gelände. | |
| Zum ersten Mal seit dem Massaker, seit dem 7. Oktober 2023. Seit dem Tag, | |
| der Israel für immer verändert hat. | |
| 6 Oct 2024 | |
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