# taz.de -- Kollektives Trauma nach 7. Oktober: L’Chaim, auf das Leben! | |
> Wie umgehen mit dem tiefen Schmerz und der anhaltenden Bedrohung? Der | |
> Autor Marko Martin hat Gespräche mit Israelis geführt über ein | |
> kollektives Trauma. | |
Bild: Berlin, 9. Januar: ein Graffito des israelischen Künstlers Benzi Brofman… | |
Wie über den 7. Oktober schreiben? Wie reden über ein genozidales Massaker, | |
das nicht zuletzt deshalb so unbegreiflich und kaum zu ertragen war, weil | |
die Täter mit Bodycams ausgestattet waren und mit Handys filmten, um das | |
Gemetzel live in die Welt zu posten, einzig aus dem Grund, um den Juden zu | |
zeigen: Ihr seid nirgendwo sicher. | |
Der Journalist und Schriftsteller Marko Martin ist dieser Erschütterung | |
nachgegangen und hat sich mit Freunden in Israel, in Berlin lebenden Juden | |
und mit Angehörigen der Geiseln unterhalten. Er hat keine Interviews | |
geführt, sondern mit den Betroffenen in Alltagssituationen oder in einer | |
Bar oder in einem Café geredet, hauptsächlich aber hat er ihnen zugehört. | |
Zum Beispiel Adi, der sich an die „furchtbare Stille“ erinnert an jenem 7. | |
Oktober, als das Massaker begann und die ersten Berichte in den Medien | |
auftauchten. Keiner seiner Berliner Nachbarn, die er häufig auf der Straße | |
traf, keine der Eltern von Kindern, mit denen sein Sohn in einer Klasse war | |
und mit denen man Kindergeburtstage gefeiert hatte, meldete sich bei ihm, | |
obwohl sie wussten, dass Adi aus Sderot stammte, aus einer Kleinstadt, die | |
zum Schlachtfeld geworden war. Kein „Wie geht’s dir? Wie geht’s deiner | |
Familie. Können wir etwas für dich tun?“. | |
Nach dem Schock meldeten sich schließlich Freunde aus Israel, wo die | |
Schrecken nicht aufhörten und eine Horrormeldung die nächste jagte, als ein | |
ganzes Land sich zu „einer einzigen WhatsApp-Telegram-Facebook-Gruppe“ | |
zusammengeschlossen hatte und Eltern verzweifelt nach ihren Kindern suchten | |
oder umgekehrt. | |
## Woher kommt die Empathielosigkeit? | |
Marko Martin konnte sich das alles nicht anhören, ohne sich nicht selbst | |
Gedanken zu machen, woher diese Empathielosigkeit der Deutschen kommt. Sind | |
die jüngeren „Biodeutschen“, die nur wenige Tage nach dem Massaker das Leid | |
der Palästinenser beklagten, etwa nicht die „Nach-Nachkommen schweigender | |
Täter und Mitläufer, Enkel jener Achtundsechziger, die ‚Schlagt die | |
Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!‘ skandiert hatten“? Jene Kinder | |
aus gutbürgerlichen Familien, „die mit Verweis auf reichlich | |
Anne-Frank-Lektüre und Klezmer-Abende“ und durch die „fortgesetzte | |
israelische Besatzungspolitik zu der Erkenntnis gekommen waren, dass es ja | |
nun auch mal gut und das ‚Ende der Schonzeit‘ „gekommen sei? | |
Man versteht die Rage gut, in die sich Martin hineinschreibt, weil ja | |
nichts aus der Luft gegriffen ist. Er kennt die empörten Reaktionen in der | |
linken und liberalen Öffentlichkeit in Deutschland, die nach jedem von der | |
PLO oder der Hamas provozierten Krieg einsetzen, wenn Juden, die vielleicht | |
sogar selbst gegen den Krieg demonstrieren, für die Politik ihres Landes | |
verantwortlich gemacht werden, während die Nachbarn nicht verstehen, warum | |
Adi sie bittet, seine jüdische Herkunft nicht herumzuerzählen. Sie halten | |
das für übertrieben, obwohl die Juden vor allem in Berlin allen Grund | |
haben, vorsichtig zu sein, weil sie sich einfach nicht sicher fühlen | |
können. | |
In Israel ist man mit anderen Dingen beschäftigt, hier werden ganz andere | |
Fragen aufgeworfen, die sich in Deutschland kaum jemand stellt, die Frage | |
zum Beispiel, warum die hohen Millionenbeträge aus Europa und Katar von der | |
Hamas nicht dazu genutzt wurden, etwas Prosperierendes zu erschaffen, und | |
warum stattdessen eine „Tunnelmonster-Stadt“ errichtet wurde mit | |
Raketenabschussrampen neben Schulen und Krankenhäusern. | |
## Platz für Zorn, Wut und Rachegefühle | |
Noch mehr aber spielen Fragen eine Rolle, wie man das kollektive und | |
individuelle Trauma verarbeiten kann, „mit welchen Phasen nach einem Trauma | |
zu rechnen ist, wie lange es womöglich dauern wird. Und dass es Platz für | |
Zorn, Wut und Rachegefühle geben muss.“ Vor allem, weil man in Israel weiß, | |
dass beim Massaker auch palästinensische Zivilbevölkerung mitmachte und | |
dass es eben nicht nur Hamas-Kämpfer waren. Und weil man den Bericht einer | |
freigelassenen Geisel kennt, die in der Wohnung eines UNRWA-Angestellten | |
festgehalten wurde. | |
Wie soll man damit umgehen, wenn man keine Lösung darin sieht, Gaza in | |
Schutt und Asche zu legen? Wie damit umgehen, dass eine Lösung des | |
Konflikts und ein Frieden nicht in Sicht sind? | |
„Wir können“, sagte Golda Meir einmal, „den Arabern verzeihen, dass sie | |
unsere Kinder umbringen. Aber wir können ihnen nicht verzeihen, dass sie | |
uns zwingen, ihre Kinder umzubringen.“ Und weiter: „Der Frieden wird | |
kommen, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“ Trotz | |
dieser deprimierenden Einsicht Meirs – den Märtyrerkult vor Augen – endet | |
Marko Martins Buch mit einem trotzigen „L’Chaim, auf das Leben“, denn etw… | |
anderes bleibt den Israelis auch gar nicht übrig. Marko Martin ist ein | |
erschütterndes Buch gelungen, in dem Israelis zu Wort kommen, die auf | |
beeindruckende Weise versuchen, die über sie am 7. Oktober hereingebrochene | |
Katastrophe zu verarbeiten, ohne den Verstand zu verlieren. | |
5 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Klaus Bittermann | |
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