| # taz.de -- Aktivist über Frieden im Nahen Osten: „Will Herzl für Palästin… | |
| > Ahmed Fouad Alkhatib ist Menschenrechtsaktivist. Hier spricht er über die | |
| > Lage in Gaza und einen Weg zur Zweistaatenlösung. | |
| Bild: Die Ruine eines Hauses in Khan Younis, das von einer israelischen Rakete … | |
| taz: Herr Alkhatib, Sie setzen sich als palästinensischer Autor und | |
| Aktivist für Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und | |
| Palästinenser*innen ein – und dafür, dass beide Seiten ihre Narrative | |
| über die jeweils andere Seite überdenken. Wie einsam fühlen Sie sich in | |
| diesen Tagen seit dem 7. Oktober? | |
| Ahmed Fouad Alkhatib: Es kann sich unglaublich einsam in diesem | |
| Niemandsland anfühlen, in dem ich mich bewege. Aber gleichzeitig kann ich | |
| sagen, dass viele Menschen auf beiden Seiten meine Ansichten und | |
| Überzeugungen teilen, sich aber nicht trauen, sie zu äußern, weil es | |
| schwierig ist, die eigene Gemeinschaft und die eigenen Leute | |
| herauszufordern. Ich selber werde permanent von Leuten auf beiden Seiten | |
| angegriffen. Die Pro-Palästina-Aktivisten haben einen [1][sehr eingeengten | |
| Blick]. Auf der anderen Seite befördern die Pro-Israel-Leute ein ebenso | |
| isoliertes Narrativ – mit ihren eigenen Wahrnehmungen von Palästinensern | |
| und falschen Vorstellungen über den Konflikt. | |
| taz: Sie kommen selbst aus Gaza, die Häuser Ihrer Kindheit sind zerstört | |
| und Sie haben im Krieg mehr als 30 Familienmitglieder verloren. Wie kann | |
| man es bei einem solchen Verlust schaffen, nicht zu hassen? | |
| Alkhatib: In meinen Augen kann ich das Vermächtnis meiner | |
| Familienmitglieder ehren, indem ich aus dem Teufelskreis von Hass, | |
| Aufwiegelung, Gewalt und Rache aussteige. Tatsächlich ist es sehr | |
| schwierig, und ich muss jeden Tag dem Sog widerstehen, der mein Engagement | |
| für Versöhnung und mein Streben nach einer dauerhaften Koexistenz mit | |
| Israelis in Frage stellt. | |
| taz: Schon 2015 haben Sie eine NGO gegründet, um dem Gazastreifen zu einem | |
| Flughafen zu verhelfen. | |
| Alkhatib: Das Projekt „Vereinte Hilfe“ konzentrierte sich auf einen | |
| bestimmten Teil des Leids, nämlich die fehlende Bewegungsfreiheit der | |
| Menschen im Gazastreifen [2][in und aus der Enklave]. Damals hatte ich die | |
| Hoffnung, dass der Krieg im Jahr 2014 der letzte sein würde und dass ein | |
| langfristiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas eine | |
| strategische Entwicklung des Streifens ermöglichen könnte, um die | |
| humanitäre Lage zu verbessern und die Menschen von Armut und Leid zu | |
| befreien. Damals gab es dort immense wirtschaftliche und gesundheitliche | |
| Herausforderungen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine der höchsten der | |
| Welt, und die Menschen sind in hohem Maße auf Hilfe und internationale NGOs | |
| angewiesen, um über die Runden zu kommen. | |
| taz: Sie plädieren dafür, angesichts der verfahrenen Situation und der | |
| Polarisierung „outside of the box“ zu denken. Was meinen Sie damit? | |
| Alkhatib: Wir müssen die festgefahrenen Narrative durchbrechen, dürfen | |
| keine Scheu vor taktischen Übereinkünften haben, auch wenn wir in einigen | |
| Punkten nicht übereinstimmen. Übereinstimmen müssten wir darin, dass die | |
| Prinzipien von Empathie und Menschlichkeit uns durch diese schreckliche | |
| Phase führen sollen. Es nimmt dem Leid der israelischen Opfer nichts von | |
| seiner Bedeutung, wenn wir die Schrecken, die in Gaza geschehen, | |
| anerkennen. Andersherum negiert es nicht das palästinensische Leid, wenn | |
| man anerkennt, dass die Hamas ein [3][ruchloser Akteur] ist, der dem | |
| dringenden Streben des palästinensischen Volkes nach Freiheit, | |
| Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit geschadet hat. | |
| taz: Das klingt gut, aber ist das nicht vollkommen fernab der Realität? | |
| Alkhatib: Was mir Hoffnung gibt, ist, dass ich einen echten Hunger nach | |
| einem dritten Weg sehe, sowohl bei vielen Israelis im Land als auch in der | |
| Diaspora und nicht nur bei den Linken oder den Liberalen, sondern auch bei | |
| den Rechten. Viele von ihnen sind entsetzt über das Leid in Gaza. Sie | |
| fühlen sich von der Netanjahu-Regierung oder den [4][rechtsextremen und | |
| gewalttätigen Ministern] nicht vertreten. Und dann gibt es viele | |
| Palästinenser, die mir vor allem unter vier Augen, aber manchmal eben auch | |
| öffentlich sagen, dass sie es leid sind, zwischen der korrupten und | |
| inkompetenten Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und dem | |
| Terrorismus der Hamas zu wählen. Ich denke, es muss einen knallharten | |
| Pragmatismus anstelle von Ideologie geben. | |
| taz: Davon sind wir derzeit gerade weiter denn je entfernt … | |
| Alkhatib: Ja. Und mir scheint, in der palästinensischen Diaspora noch viel | |
| mehr als in Gaza. Die palästinensische Diaspora hat sich meines Erachtens | |
| viel stärker radikalisiert als die Palästinenser in Gaza. | |
| taz: Wie erklären Sie sich das? | |
| Alkhatib: Zum einen mit Schuldgefühlen. [5][Viele Palästinenser in der | |
| Diaspora] fühlen sich schuldig, weil sie rausgekommen sind und mehr | |
| Möglichkeiten haben als die Palästinenser im Gazastreifen und im | |
| Westjordanland. Das veranlasst meines Erachtens einige dazu, dieses | |
| schlechte Gewissen zu kompensieren, indem sie eine radikalere Haltung | |
| einnehmen. Dies führt zu einer leichten Diskrepanz zwischen den | |
| Palästinensern in den Gebieten und denen außerhalb des Gazastreifens. Die | |
| Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland legen manchmal mehr | |
| Pragmatismus und Flexibilität an den Tag als die in der Diaspora. | |
| Außerdem versuchen einige nicht-palästinensische Verbündete, die | |
| palästinensische Bewegung zu kapern und sie in einen [6][postkolonialen | |
| Rahmen] zu stellen. Dabei ist die Realität in Palästina ganz [7][anders als | |
| in Südafrika]. Uns wurde gesagt, dass wir mit Sanktionen und BDS allein die | |
| Rechte der Palästinenser erlangen können. Dabei brauchen wir in | |
| Wirklichkeit Verbündete innerhalb der jüdischen und israelischen | |
| Communitys, um Frieden zu erreichen. Ihr Sicherheitsgefühl ist der | |
| Schlüssel für eine sinnvolle Lösung – natürlich zusammen mit der Sicherhe… | |
| der Palästinenser. Wir können über die Art und Weise, wie Israel gegründet | |
| wurde, unterschiedlicher Meinung sein. Dennoch müssen wir in die Zukunft | |
| blicken. Denn das palästinensische Volk verdient [8][einen eigenen Staat] | |
| im Westjordanland und im Gazastreifen. | |
| taz: Was wäre denn in Ihren Augen der Weg zu einem palästinensischen Staat? | |
| Alkhatib: Obwohl viele von uns danach gestrebt haben, eine demokratische | |
| Gesellschaft zu schaffen, hatten wir nie die Chance dazu, diese zu | |
| entwickeln. Es gibt keine wirkliche palästinensische Zivilgesellschaft und | |
| kaum demokratischen Dialog auf kommunaler Ebene. Das liegt auch daran, dass | |
| wir so verteilt leben. Es gibt die Palästinenser in den | |
| palästinensischen Gebieten, es gibt Flüchtlinge in Syrien, im Libanon, in | |
| Jordanien. Und dann noch die Palästinenser im Rest der Welt, in der | |
| westlichen Diaspora. Es ist so schwer, es sich vorzustellen, aber wenn ich | |
| endlose Ressourcen hätte, dann würde ich gerne das Äquivalent zur | |
| zionistischen Bewegung für die Palästinenser schaffen. Ich wäre | |
| gewissermaßen gerne der [9][Theodor Herzl] für die Palästinenser. | |
| taz: Haben Sie denn noch Hoffnung, dass Sie eines Tages ein demokratisches | |
| und unabhängiges Palästina erleben werden? | |
| Alkhatib: Ich bin optimistisch und hoffe, dass es in der Zukunft | |
| tatsächlich eine Reihe von Entitäten geben wird, die sich | |
| zusammenschließen, um ein Heimatland und ein unabhängiges Palästina zu | |
| schaffen. Es wird vielleicht nicht sofort wie ein traditioneller Staat | |
| aussehen, aber ich glaube, dass wir mit der nötigen Zeit und dem nötigen | |
| Raum dorthin gelangen können. Der Gazastreifen wird ein wichtiger Teil | |
| dieses Puzzles sein. Es ist wichtig zu zeigen, dass die Palästinenser zu | |
| einer effektiven Selbstverwaltung fähig sind und dass wir den Schaden, den | |
| die Hamas nach dem Abzug der israelischen Siedlungen 2005 angerichtet hat, | |
| rückgängig machen können. Der Gazastreifen kann und muss das pulsierende | |
| Herz eines künftigen palästinensischen Staates werden. | |
| 6 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Judith Poppe | |
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