| # taz.de -- 7. Oktober – ein Jahr danach: (K)ein neues Leben | |
| > Hamas-Kritiker Howidy verließ im Sommer 2023 Gaza. Er wollte den Nahen | |
| > Osten hinter sich lassen, dann kam der 7. Oktober. Ein persönliches | |
| > Protokoll. | |
| Bild: 7. Oktober 2023: Gewaltsamer Durchbruch am Zaun an der Grenze Israel-Gaza | |
| Als ich Gaza verließ, wollte ich mich eigentlich nicht mehr zum Konflikt | |
| zwischen Israel und Palästina äußern. Ich wollte ein neues Leben beginnen, | |
| arbeiten, vielleicht als Buchhalter, vielleicht etwas anderes. Das war im | |
| Sommer 2023. Von Ägypten aus flog ich in die Türkei und von dort kam ich | |
| dann nach Griechenland. | |
| Dann kam der 7. Oktober. | |
| Ich war gerade in einem Flüchtlingslager, als die ersten Nachrichten kamen. | |
| Als ich in den sozialen Medien von den Geiseln hörte, war mir klar, dass | |
| ich meinen Vorsatz, nichts mehr zur politischen Situation im Nahen Osten | |
| sagen zu wollen, nicht würde halten können. Ich sagte mir, es reicht, dass | |
| diese Terroristen die palästinensische Sache an sich reißen und sich als | |
| unsere Vertreter ausgeben. Ich wusste, dass [1][diese Aktion eine | |
| Katastrophe für den Gazastreifen sein würde.] | |
| Also schrieb ich einen Post, in dem ich die Hamas und ihren militanten | |
| Flügel, die Al-Kassam-Brigaden kritisierte, genauer gesagt, ihren Sprecher, | |
| Abu Obeida. In dem Flüchtlingslager waren neben mir viele andere aus Gaza, | |
| für [2][viele von ihnen ist Abu Obeida so etwas wie Gott.] Einer von ihnen | |
| sah den Post, bedrohte mich und sagte, wenn ich noch einmal so etwas | |
| schreiben würde, dann würden sie mich töten. | |
| ## Morddrohungen von Hamas-Anhängern | |
| [3][2019 hatte ich die Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen mit | |
| organisiert, im Geheimen.] Wir haben uns nicht getraut, den Sturz der Hamas | |
| zu fordern, stattdessen war unser Slogan „Wir wollen leben“. Innerhalb | |
| eines einzigen Tages nahm die Hamas 3.000 Demonstranten fest, 3.000, das | |
| muss man sich mal vorstellen in diesem kleinen Stückchen Land. Und in | |
| Hamas-Gefängnissen hat man nicht das Vergnügen, einen Anwalt zu haben oder | |
| die Familie sehen zu können; und es gibt Folter. Zum Glück konnten meine | |
| Eltern das Geld aufbringen, um mich aus dem Gefängnis freizukaufen. Wer das | |
| Geld nicht hatte, blieb noch lange Zeit. | |
| Einige Monate vor dem 7. Oktober, im Juni 2023, versuchten wir es noch | |
| einmal. Wir demonstrierten, die Hamas nahm uns fest, ich war alleine in | |
| einer Zelle ohne Toilette und mit einer Mahlzeit am Tag, die man nicht als | |
| Mahlzeit bezeichnen kann. Was mich wirklich frustrierte, war, dass die | |
| Medien kaum darüber berichteten. Nicht arabische Medien und nicht | |
| internationale. Auch von Hilfsorganisationen fühlten wir uns | |
| alleingelassen. Im Sommer 2023 bin ich geflohen. | |
| Ich bin in einer relativ weltoffenen Familie groß geworden. Mein Vater hat | |
| viele Jahre in Großbritannien gearbeitet. Er war der Erste, der uns vor | |
| fanatischen Ideologien warnte. | |
| Den Krieg von hier aus zu erleben und zu wissen, dass meine Familie dort | |
| ist, war furchtbar. Meine Mutter schrieb mir kurz nach dem Ausbruch des | |
| Krieges, dass dieser Krieg mit nichts vergleichbar sei, was sie bisher | |
| erlebt hätten. Die heftigen Bombardements, die schreckliche humanitäre | |
| Situation. Ich habe mir ständig Sorgen gemacht, wenn ich sie wegen der | |
| schlechten Internetverbindung nicht erreichen konnte. | |
| ## Kritisiere ich zu einseitig? | |
| Gleichzeitig erhielt meine Familie auch dort von Hamas-Anhängern | |
| Morddrohungen – wegen eines Artikels, den ich für Newsweek geschrieben | |
| hatte. Darin hatte ich die Bewohner des Gazastreifens dazu aufgerufen, von | |
| der Hamas zu fordern, die Geiseln freizulassen. Wenn schon nicht aus | |
| moralischer Verpflichtung, dann doch, um zu retten, was vom Gazastreifen | |
| noch übrig ist. Kurz vor der Rafah-Offensive im Mai konnte meine Familie | |
| nach Ägypten fliehen. | |
| Ich bin im Februar dieses Jahres in Deutschland angekommen. Seitdem lebe | |
| ich hier in einem Flüchtlingslager, ich sage nicht, wo genau. Vor einigen | |
| Monaten gab ich CNN ein Interview und sagte, wo ich lebe, daraufhin bekam | |
| ich wieder Morddrohungen. | |
| Kurz nach meiner Ankunft nahm ich an einem Seminar teil, in dem Israelis | |
| und Palästinenser in einem geschützten Raum über ihre Perspektiven auf den | |
| Konflikt sprechen konnten. Dort traf ich einen Israeli, mit dem ich mich | |
| anfreundete. Wir machten damals einen Spaziergang und stießen auf eine | |
| propalästinensische Demonstration. Einer von ihnen erkannte mich und rief | |
| den anderen zu: „Er ist Zionist!“ Ich bin sofort abgehauen. | |
| Ich muss sagen, die heftigste Kritik kommt von den propalästinensischen | |
| Menschen in der Diaspora. Menschen aus Gaza schreiben mir oft, sie | |
| wünschten, sie hätten die Möglichkeit, das zu sagen, was ich sage. | |
| ## Irgendjemand muss das Eis brechen | |
| Ich frage mich manchmal, ob ich zu einseitig kritisiere. Das kann sein. | |
| Aber irgendjemand muss das Eis brechen. Und ich glaube, es ist wichtig zu | |
| zeigen, dass nicht alle Palästinenser dieser Ideologie anhängen. Ich bin | |
| auch dadurch ziemlich einsam in dieser Zeit, könnte man sagen. | |
| Meine Nachmittage nach dem Deutschkurs verbringe ich in der Bibliothek, um | |
| in Ruhe lesen zu können. Hier im Flüchtlingslager ist es so laut. Im Moment | |
| lese ich ein Buch, das mir ein Freund empfohlen hatte: „Über den Sinn des | |
| Lebens“. Ein Buch des Psychotherapeuten Viktor Frankl, der verschiedene | |
| Konzentrationslager überlebte. Irgendwie war mir schnell klar, dass ich es | |
| lesen sollte. Vielleicht weil ich denke: „Wenn er diese Konzentrationslager | |
| überlebt hat, dann kann ich das hier auch überleben.“ | |
| Die Sorge, mit der ich in diesen Tagen einschlafe und mit der ich aufwache | |
| ist: Was, wenn mein Asylantrag nicht angenommen wird? Wohin dann? | |
| Vielleicht zurück nach Ägypten zu meiner Familie. Und dann? Ich hoffe, dass | |
| Gaza eines Tages zusammen mit dem Westjordanland und Ostjerusalem ein | |
| unabhängiger, palästinensischer und demokratischer Staat sein wird. Ich | |
| würde überglücklich in dieses Land zurückkehren. | |
| Hamza Abu Howidy ist Palästinenser aus Gaza. Er lebt im Exil und ist | |
| Buchhalter und Friedensaktivist. | |
| 8 Oct 2024 | |
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| Judith Poppe | |
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