# taz.de -- 7. Oktober – ein Jahr danach: „Zukunft liegt in Gottes Hand“ | |
> Fast die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist auf der Flucht, | |
> Zehntausende sind tot. Abu Amsha hofft auf Frieden und Wiederaufbau. | |
Bild: Seit Monaten auf der Flucht, Leben im Zelt: Abu Amsha im Gazastreifen im … | |
Gaza/Beirut taz | Genau ein Jahr ist es nun her, dass Eid Moeen Eid Abu | |
Amsha mit seiner Frau und seinem Sohn die gemeinsame Wohnung in Beit | |
Hanoun, Nordgaza, verlässt. Sofort nachdem klar wird, was auf der anderen | |
Seite des Checkpoints Erez, auf dessen palästinensischer Seite er lebt, vor | |
sich geht. Sie beladen das Auto mit dem Nötigsten und fahren Richtung | |
Süden. [1][Acht Mal, sagt er, seien sie insgesamt vertrieben worden.] | |
Abu Amshas Geschichte ist eine von vielen. Vor dem Krieg lebten im | |
Gazastreifen etwa 2,3 Millionen Menschen. Etwa 83 Prozent davon, ungefähr | |
1,7 Millionen Menschen, sind innerhalb Gazas Vertriebene, nach Angaben des | |
Internal Displacement Monitoring Center. Viele von ihnen mehrfach. | |
Abu Amshas Irrweg durch Gaza geht so: von Beit Hanoun, ganz im Norden | |
Gazas, in das Flüchtlingslager Jabaliyah. Dann weiter nach al-Nasser, einem | |
Stadtteil der Metropole Gaza-Stadt. Von dort ziehen sie weiter in das | |
Al-Shifa-Krankenhaus, ebenfalls in Gaza-Stadt. Von dort in das südlichere | |
Khan Yunis, dann nach Rafah, ganz im Süden des Küstenstreifens, an der | |
israelischen Grenze. Und schließlich von dort nach al-Mawasy, das heute als | |
„humanitäre Zone“ bekannt ist. An Abu Amshas langer Flucht lassen sich die | |
verschiedenen Phasen des Krieges in Gaza erkennen. Und wie das israelische | |
Militär – und auch die Hamas – diesen führt. | |
## Ständige Flucht innerhalb des Gazastreifens | |
Erkennen lässt sich das etwa am Camp Jabaliyah, die erste Station der | |
langen Flucht von Abu Amsha. Der Begriff täuscht: Jabaliyah existiert seit | |
1948. Die Menschen, die darin leben, sind in jenem Jahr aus ihren | |
Heimatorten im heutigen israelischen Staatsgebiet geflohen. Hier stehen | |
keine Zelte, sondern Häuserzeilen an engen Straßen, das kleine Gebiet ist | |
extrem dicht besiedelt. Dort sei es nicht sicher gewesen, sagt Abu Amsha. | |
Rund um den 22. Oktober, erzählt er, verlässt er mit seiner Familie das | |
Camp. | |
Er und seine Familie haben Glück: Am 31. Oktober fliegt das israelische | |
Militär einen Luftangriff auf das Camp, er gilt nach israelischen Angaben | |
einem für den 7. Oktober verantwortlichen Hamas-Anführer. Der Krater, den | |
die Explosion hinterlässt, ist enorm: Der Guardian berichtet von einem | |
Durchmesser von zwölf Metern. Wie viele Menschen sterben, lässt sich | |
unabhängig nicht überprüfen. | |
Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium des Gazastreifens | |
spricht von über 190 Toten. Anfang November beginnt die Bodenoffensive des | |
israelischen Militärs, Ende November ist das Gebiet umstellt. Als sich das | |
Militär im Januar aus Jabaliya zurückzieht, berichten verschiedene Medien | |
von der massiven Zerstörung, die die Offensive hinterlassen hat. Das | |
israelische Militär gibt damals an, die Bataillone der Hamas zerstört zu | |
haben. | |
Im Mai 2024 – Abu Amsha ist mit seiner Familie in Rafah untergekommen – | |
starten die Israelis erneut eine Offensive auf Jabaliya. Für die | |
Zivilbevölkerung ist das eine Katastrophe: Wer in der Zwischenzeit | |
zurückgekehrt ist, muss wieder flüchten. Es gibt keinen Ort, an dem die | |
Menschen in Sicherheit sind. Stattdessen wartet man. Kommt eine | |
Evakuierungsaufforderung des israelischen Militärs? Und wenn ja, wohin als | |
Nächstes flüchten? | |
## Immer wieder von vorne beginnen | |
Auch militärstrategisch betrachtet, sagt Seth Frantzman, könne er die Art, | |
wie das Militär in Gaza Krieg führt, kaum nachvollziehen. Er schreibt unter | |
anderem als Korrespondent für die israelische Zeitung Jerusalem Post. Auch | |
nach rund einem Jahr, erklärt er im Frühsommer, habe Israel seine Ziele in | |
Gaza – die Befreiung der Geiseln sowie die Hamas zu zerstören – nicht | |
erreichen können. Stattdessen erlaube die Kriegsführung Israels der Hamas, | |
sich immer wieder zu regruppieren. Auch an Orten, die bereits als von ihr | |
befreit galten. | |
Denn jedes Mal, wenn sich das israelische Militär zurückziehe, hinterlasse | |
sie ein Machtvakuum. Und das fülle die Hamas schnell wieder. Mit jeder | |
Evakuierungsaufforderung schicke Israel die Zivilbevölkerung wieder in die | |
Hände der Hamas. Frantzman zieht den Vergleich mit der Schlacht um Mossul | |
gegen den „Islamischen Staat“ 2014. Damals hätten das irakische Militär u… | |
seine Verbündeten Zivilistinnen und Zivilisten aus der Stadt evakuieren | |
lassen – und sie somit hinter die kämpfenden Soldaten gebracht. | |
Das sieht man auch an dem Weg, den Abu Amsha nimmt. Als er von Beit Hanoun | |
nach Jabaliyah flüchtet, bewegt er sich in ein Gebiet, in dem Israel starke | |
Strukturen der Hamas verortet. Frantzman sagt: Das erlaube der | |
Terrorgruppe, ihre Kontrolle über die Bevölkerung und damit über die | |
Verteilung von Hilfslieferungen zu behalten. Im Juli schreibt er in der | |
Jerusalem Strategic Tribune: Die Strategie des israelischen Militärs ähnele | |
in Gaza immer mehr der Strategie im Westjordanland: Die Kampagnen, die das | |
israelische Militär dort immer wieder durchführt, sind für die | |
Zivilbevölkerung eine Katastrophe. | |
Auch in Gaza ist [2][die Zivilbevölkerung zwischen der harten Kriegsführung | |
des israelischen Militärs und der anhaltenden Unnachgiebigkeit der Hamas | |
gefangen]. Das zeigt sich etwa am Al-Shifa-Krankenhaus, Abu Amshas vierter | |
Station auf seiner Flucht quer durch den Gazastreifen. Die israelische | |
Bodenoffensive ist einer der Momente aus dem vergangenen Kriegsjahr, die im | |
kollektiven Gedächtnis der Öffentlichkeit besonders haften geblieben sind: | |
Als das israelische Militär seine Kampagne ankündigt, flieht Abu Amsha | |
weiter. Und muss schon wieder von vorne beginnen: einen Wohnort suchen, | |
Versorgung mit Strom, Essen, Wasser, Internet. | |
## Vorletzte Station Rafah | |
In der Al-Shifa-Klinik, so das israelische Militär, befinde sich ein | |
Kommandozentrum der Hamas – oder vielmehr darunter. Unter dem Krankenhaus | |
ist ein Bunker. Israel hat ihn, so berichtet das konservativ-jüdische | |
Medium Tablet Magazine, 1983 selbst gebaut. Unter dem Krankenhaus befindet | |
sich außerdem ein Tunnel. Und wie die New York Times, basierend auf | |
israelischen Geheimdienstpapieren, schreibt, nutze die Hamas das | |
Krankenhaus, um Waffen darin zu lagern und den darunter gelegenen Tunnel | |
mit Wasser, Strom und Luftzufuhr zu versorgen. | |
Vom israelischen Militär heißt es: Man habe Hunderte Verdächtige | |
festgenommen und über 200 Kämpfer getötet, darunter auch „Top-Kommandeure�… | |
der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Mit der | |
Militärkampagne wird aus dem Krankenhaus eine Kampfzone. Die | |
Gesundheitsversorgung in Gaza, sagt Abu Amsha, sei eine Katastrophe. Viele | |
Kinder hätten Läuse, viele Menschen Hautkrankheiten. Auch in al-Mawasy, wo | |
Abu Amsha heute lebt, erfolgt der Großteil der Versorgung der Menschen über | |
Feldkliniken. | |
Abu Amshas [3][vorletzte Fluchtstation ist Rafah], das lange als relativ | |
sicherer Hafen gilt und in dem mindestens ein Krankenhaus noch relativ gut | |
funktioniert. Mitte Mai – als Israel auch in Jabaliyah wieder mit seiner | |
Militärkampagne beginnt – muss das Gebiet schließlich evakuiert werden. | |
Andrew Fox, ehemaliger Major in der britischen Armee, nennt die Strategie | |
einen Erfolg – trotz des hohen Preises, den die Zivilbevölkerung zahlt. Bei | |
Tablet Magazine schreibt er: Die Taktik, Gebiete einzunehmen und zu halten | |
und alternative Kontrollstrukturen aufzubauen, sei personalintensiv. Er | |
gibt zu: Die Hamas zerstören, sie also vollkommen kampfunfähig zu setzen, | |
sei nicht möglich. Sie zu besiegen, sei aber möglich, schreibt er. | |
„Besiegen“ bedeute, die Kampfstärke der Organisation auf mindestens etwa | |
die Hälfte zu reduzieren. Dafür müsse es die Möglichkeit der Hamas, Israel | |
anzugreifen, zerstören. | |
## Hoffen auf den Wiederaufbau | |
Eine langfristige Lösung, den Aufbau einer alternativen Regierung, etwa die | |
Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde als kontrollierende Macht | |
in das Gebiet, hält er für unrealistisch. Dass es einen solchen Plan bis | |
heute nicht gibt, ist einer der Kritikpunkte, den etwa westliche Staaten, | |
und auch Frantzman, an Israel richten. Von Anfang an, sagt er, habe es kein | |
klares Kriegsziel gegeben. | |
Abu Amshas Haus im Norden Gazas ist zerstört. Er hat seine Arbeit verloren. | |
Essen, sagt er, bekomme seine Familie von den Charity-Küchen. In seinem | |
Zelt in al-Mawasy träumt er davon, in einem Zelt neben seinem zerstörten | |
Haus leben zu können. Doch zwischen al-Mawasy und Beit Hanoun liegt der | |
Netzarim-Korridor, den die Israelis kontrollieren und der das Gebiet | |
faktisch teilt. Seine Hoffnung liegt in dem, was bisher als Plan weltweit | |
fehlt: „Meine Zukunft liegt in Gottes Hand. Ich hoffe, dass eine neue | |
Regierung die Kontrolle über Gaza ergreifen und es wieder aufbauen wird.“ | |
Sami Zyara arbeitet als Journalist im Gazastreifen. Seit dem 7. Oktober hat | |
er alles verloren. Er lebt in einem Zelt in Südgaza. | |
Lisa Schneider ist Nahost-Redakteurin der taz und berichtet zurzeit aus | |
Beirut im Libanon | |
7 Oct 2024 | |
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