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# taz.de -- Pro-Palästina-Bewegung: Eine Entfremdungsgeschichte
> Akteure der propalästinensischen Bewegung bestreiten eine
> Radikalisierung. Stattdessen kritisieren sie die einseitige Rolle des
> Staates.
Bild: Palästina-Demo am Potsdamer Platz
Berlin taz | Kürzlich standen sich vor der Bibliothek der TU Berlin zwei
Demonstrationen entgegen. Auf der einen Seite ein Block mit etwa 30
Teilnehmern, die israelische Flaggen schwenkten, auf der anderen Seite eine
mehrfach größere propalästinensische Kundgebung, die gegen eine Rede Volker
Becks protestierte. Der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft,
der mit Aussagen zum Nahostkonflikt immer wieder Kontroversen auslöst,
sollte im Rahmen einer Tagung zu Antisemitismus referieren.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr und dem seitdem
anhaltenden israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen ist Berlin Hotspot
der Nahost-Proteste. 693 angemeldete Versammlungen zum Thema gab es
zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 23. September dieses Jahres. 339
hatten eine [1][propalästinensische Ausrichtung].
Im Raum steht die Frage: Radikalisiert sich die Palästina-Bewegung?
Das ZDF konstatierte jüngst, sie sei militanter geworden. Und der
Tagesspiegel-Reporter Sebastian Leber äußerte in einem Video bei X gar, er
würde ja über moderate Palästina-Demos berichten, nur gebe es die nicht.
Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage, sie könne keine solche
Radikalisierung erkennen. Doch ganz so einfach ist das nicht zu
beantworten. Die Palästina-Bewegung besteht aus vielen verschiedenen
Organisationen, das Gros der Demonstrierenden sind Einzelpersonen, die
keiner Gruppe zugeordnet werden können. Diese Vielfältigkeit macht es
schwer zu analysieren, wie sich „die Bewegung“ entwickelt. Wenn man sich
umhört, heißt es jedoch von vielen Gesprächspartnern: Es sei gerade diese
Vielfältigkeit, die Radikalisierung verhindere.
## Nicht generell gewaltvoll
„Eine Radikalisierung im Sinne, dass zu Gewalt aufgerufen oder gegriffen
wird, kann ich nicht erkennen“, sagt Ahmed Abed, Fraktionsvorsitzender der
Linken in der Neuköllner BVV, der selbst Teil der Bewegung ist. Als Anwalt
vertritt er auch Demonstrierende, denen die Polizei Übertretungen des
Versammlungsrechts vorwirft. „Da scheren Einzelne aus. Es gibt wöchentliche
Demonstrationen mit monatlich zehntausenden Teilnehmerinnen“, so Abed. Er
findet: Die Proteste seien erstaunlich friedlich, insbesondere angesichts
der großen Repression. „Es gibt kaum eine Demo ohne Verletzte durch die
Polizei.“
„Deutschlandweit halten sich die meisten Leute, die sich an
Pro-Palästina-Demos beteiligen, für Anhänger des demokratischen Spektrums,
die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen“, sagt der Islamwissenschaftler
Patrick Möller. Bei einigen Demos seien selbst die Parolen mit der Polizei
abgesprochen – zumindest von den Organisatoren. „Dass Organisatoren
letztlich keinen Einfluss darauf haben, wer zu einer Demo kommt, ist nun
mal Fakt“, so Möller. Störenfriede könnten erst im Verlauf einer Demo
ausgeschlossen werden.
Möller beobachtet drei unterschiedliche Strömungen in der Bewegung: Es gebe
einerseits die palästinensische Nationalbewegung an sich. In Deutschland
und insbesondere in Berlin lebt eine der größten palästinensischen
Diasporen Europas. Politisch sind die meisten organisierten Gruppen eher
dem linken Spektrum zuzuordnen oder sich um Menschen handelt, denen es
tatsächlich primär in erster Linie ausschließlich um Palästina geht. Dann
gebe es linke bis linksradikale, oft kommunistische Gruppen, die ihren
Einsatz für Palästina als Teil einer übergeordneten politischen Ideologie
sehen. Diese zwei Strömungen überlappen sich und rufen teilweise gemeinsam
zu Demos auf.
Daneben gibt es noch islamistische Gruppen, die in zwei Kategorien
unterschieden werden sollten. Bei ersterer Gruppe handelt es sich um
Islamisten, die ihre Vorstellungen einer islamischen Gesellschaft im Rahmen
eines Nationalstaates Palästina umsetzen wollen. Dabei ist nicht
ausgemacht, das nationalpalästinensische Islamisten ich automatisch
abkapseln von anderen Palästina-Kundgebungen, die nicht zwangsläufig
ausschließlich islamistisch orientiert sind.
Das andere Spektrum der Islamisten umfasst nicht-nationalpalästinensische
Gruppen wie die verbotene Hizb ut-Tahrir oder Muslim Interaktiv. Diese
lehnt explizit die Idee eines palästinensischen Nationalstaates ab und will
stattdessen Palästina zum Teil eines globalen Kalifats machen. Bewegungen
aus dem ideologischen Umfeld der verbotenen Hizb ut-Tahrir veranstalten
zwar eigene Demos, etwa Kundgebungen in Essen und Hamburg, die viel
Aufmerksamkeit erhielten, weil dort für ein Kalifat geworben wurde. Doch
genau das ist es, was sie zu Außenseitern in der Palästina-Frage mache.
Auf ihren Demos versuchen sie mitunter, Geschlechtertrennung durchsetzen.
Damit kommen sie bei der Palästina-Bewegung, die vor allem von Linken
geprägt ist und in der Frauen und queere Menschen überproportional
vertreten sind, schlecht an. „Manchen Islamisten – wie der Hizb ut-Tahrir �…
sind die Anliegen der Palästinenser herzlich egal; sie benutzen das Thema
nur, um unter Muslimen für ihre eigene Ideologie zu werben“, sagt Möller.
## Viele Strafverfahren
Nach einem Jahr der Proteste hat die Berliner Staatsanwaltschaft knapp
3.200 Verfahren im Kontext mit dem Nahostkonflikt auf den Tisch bekommen,
von denen 103 als antisemitische Hasskriminalität gewertet werden, so zeigt
es eine Auswertung vom Wochenende. Viele weitere Fälle liegen bei der
Polizei. Einer der bekanntesten Fälle ist die Attacke auf den jüdischen
Studenten Lahav Shapira im Februar. Am Samstag sollen aus einer
propalästinensischen Demo heraus zwei israelische Touristen attackiert
worden sein.
Meist geht es dagegen um Sachbeschädigungen. Am gravierendsten ist wohl der
Brandanschlag auf das Gymnasium Tiergarten im Juli, zuletzt brannte es auch
an der Israel-solidarischen Kneipe Bajszel in Neukölln. Dazu kommen
Sprayereien: Das Bürogebäude des Tagespiegels wurde mit einem roten Dreieck
beschmiert, das als Symbol der Hamas gilt, Unbekannte sprayten
[2][„Genocide Joe Chiallo“] auf das Wohnhaus des Kultursenators.
1.070 Fälle, die von der Staatsanwaltschaft bearbeitet werden, ereigneten
sich im Demo-Kontext. Es gebe einen kriminologischen Grundsatz, merkt
Anwalt Ahmed Abed an: „Wo mehr Polizisten eingesetzt werden, da werden auch
mehr Straftaten registriert.“ Eingegriffen wird etwa bei dem verbotenen
Spruch „From the river to the sea“. Doch die Verbotsverfügung des
Bundesinnenministeriums hält vor Gericht meist nicht stand. In Hessen hat
das Landesverwaltungsgericht den Spruch wieder zugelassen. In Berlin ist er
nach wie vor untersagt. Von den vielen erfassten Fällen führen laut Abed
die wenigsten zu Verurteilungen. 90 Prozent von ihnen werden seiner
Erfahrung nach von den Gerichten eingestellt.
Wenn man sich unter Aktivisten der Bewegung, Beobachtern und Anwälten
umhört, stößt man auf eine Umkehrung des Radikalisierungsvorwurfs: Wer sich
wirklich radikalisiere, sei der deutsche Staat. „Radikal ist, das
Völkerrecht mit Füßen zu treten und friedliche Demonstrationen zu
kriminalisieren“, sagt Abed. Ein Aktivist meint: „Nicht mal Neonazis vom
Dritten Weg werden so behandelt.“ So erlaube die Polizei regelmäßig
Gegendemonstranten inmitten der propalästinensischen Kundgebungen, mit der
Folge, dass es vermehrt zu Beleidigungen und Übergriffen komme.
Die Härte gegenüber den Protesten führe zu einer rasanten Entfremdung vom
deutschen Staat. „Ich erlebe eine sehr große Enttäuschung gegenüber einer
Politik, die sich weigert, einen konstruktiven Dialog einzugehen“, so der
Aktivist. Diese Beobachtung stützt auch Islamwissenschaftler Möller. „Wir
sehen vor dem Hintergrund der deutschen politisch-medialen Debatte im Zuge
des Israel-Gaza-Krieges einen massiven Vertrauensverlust in der
muslimischen Community.“
Möller verweist auf eine Allensbachstudie von 2021, in der die
Einstellungen von deutschen Muslimen zur Demokratie untersucht wurde. Die
Studie stellte fest, dass Muslime im Schnitt deutlich mehr Zustimmung zur
Demokratie an sich und mehr Zufriedenheit über das deutsche demokratische
System ausdrückten als die Gesamtbevölkerung. Möller geht davon aus, dass
heute ein starker Einbruch in diesem Vertrauensverhältnis festzustellen
wäre.
Einige Aktivisten verweisen auch auf die rasante Politisierung von
Menschen, die neu zur Bewegung gestoßen sind. Gerade Studierende erlebten
oft zum ersten Mal, wie hart der Staat durchgreifen könne, wenn sie Demos
oder Protestcamps organisieren. Ebenso wie viele muslimische Menschen
erfahren auch sie eine Entfremdung vom deutschen Staat.
6 Oct 2024
## LINKS
[1] /Pro-Palaestina-Bewegung-in-Berlin/!6012578
[2] /Palaestina-Bewegung-in-Berlin/!6038680
## AUTOREN
Caspar Shaller
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