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# taz.de -- Soziologe Ullrich zu Protesten am 1. Mai: „Nationaler Furor“
> Die 1.-Mai-Demo in Berlin war geprägt von Pro-Palästina-Slogans. Peter
> Ullrich spricht über die Empörung der Bewegung, Antisemitismus und
> Repression.
Bild: Pro-palästinensische Demonstranten beim Revolutionären 1. Mai in Berlin
taz: Herr Ullrich, die [1][Revolutionäre 1. Mai-Demo] in Berlin war quasi
eine reine Palästina-Demo. Andere Themen fanden nur am Rande statt. Hat Sie
das überrascht?
Peter Ullrich: Da deutete schon im Vorfeld vieles darauf hin. Das Thema
wurde bewusst ins Zentrum der Demo gestellt. Und für linke Bewegungen ist
es eh ein Zentralkonflikt, der immer wiederkommt. Erst recht bei so einer
dramatischen Zuspitzung in Nahost.
Vereinzelt waren auf der Demo verbotene Slogans wie „From the river to the
sea“ zu hören. Ein Eingreifen der Polizei mit anschließender Eskalation
stand kurz bevor. Woher kommt dieser Hang, trotzdem diese Dinge zu rufen?
Zunächst einmal, weil man es schlicht so meint. Dann geht es sicherlich
auch um Selbstbehauptung gegen die Massivität, mit der gegen die
propalästinensische Bewegung vorgegangen wird. Denken Sie an das [2][Verbot
aller Proteste in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober] mit der mindestens
impliziten rassistischen Unterstellung, es handele sich sämtlich um
Pro-Hamas-Demos. Oder an die völlig unverhältnismäßige [3][Schärfe, mit der
gegen den Palästina-Kongress vorgegangen wurde]. Auf diesen Druck reagiert
man mit einem gewissen Trotz und dem Versuch, Stärke zu zeigen, indem man
sich nicht dem Staatsräsondiskurs fügt. Andererseits kann man eine
verstörende extreme Wut und eine Dauerempörung, die fast religiös anmutet,
beobachten, was sich insbesondere bei den nicht persönlich Betroffenen
nicht allein aus dem Konflikt selbst erklären lässt.
Woher kommt das dann?
Man sieht einerseits den Einfluss aktueller antirassistischer Diskurse und
bestimmter Formen der „Identitätspolitik“. Die radikalisiert die
Sprechortlogik: Nur Betroffene haben das Recht, sich zu bestimmten Themen
zu äußern. Auch eine holzschnittartige Anwendung postkolonialer Diskurse
auf Israel spielt eine Rolle. Die kolonialen Anteile an der Entstehung
Israels werden betont, die befreiungsnationalistischen hingegen ignoriert.
Das Denken ist sehr antagonistisch, für Uneindeutigkeiten ist kein Platz.
Das andere ist, dass man sich gesamtgesellschaftlich in der Defensive
fühlt. All das fördert die Gefahr, in Partikularismus zu verfallen.
Eine Überidentifizierung mit der palästinensischen Sache?
Es wird sich eben oft nicht nur in universalistischer Hinsicht für die
Befreiung von Menschen von Besatzung engagiert, sondern man wird quasi
Partei in einem nationalistischen Konflikt zwischen Zionismus und der
palästinensischen Nationalbewegung. Der Nationalismus des eigentlichen
Konflikts hinterlässt seine Spuren im Nahostkonflikt der
Solidaritätsbewegungen. Man verfestigt hier Antagonismen, anstatt eine
dritte Position einzunehmen, die es für eine Friedenspolitik bräuchte.
Dieser Maximalismus trägt dazu bei, dass die Bewegung extrem unempfänglich
auch für solidarische Kritik ist und die Reflexion scheut.
Woran machen Sie das fest?
Ein Beispiel: Ich war als Gast beim Geburtstag der [4][Jüdischen Stimme für
gerechten Frieden in Nahost im vergangenen November im Oyoun] in Neukölln,
mit netten Menschen und guter Musik. Und doch habe mich dort ziemlich
alleine gefühlt, trotz aller Gemeinsamkeiten, zum Beispiel im Hinblick auf
die Besatzungskritik. Irritiert hat mich, dass nicht zu spüren war, dass
kurz vorher der 7. Oktober war. Das Schweigen zu diesem abscheulichen
Terror war wirklich ohrenbetäubend. Es gab aber auch keinen Antisemitismus
oder Hamas-Verherrlichung. Diese Veranstaltung hätte genauso zehn Jahre
vorher stattfinden können. Dieses Gefühl haben auch jüdische Linke
artikuliert, die sich zwar als Teil der Palästina-Solidaritätsbewegung
verstehen, aber keine Empathie für ihre Traumata und Verluste nach dem
Hamas-Angriff erfahren haben.
Dem Oyoun wurden anschließend die Gelder gestrichen
Das kritisiere ich auch. Was ich als Ambivalenz empfunden habe, wurde in
der öffentlichen Debatte vereindeutigt, als wäre das Oyoun ein
antisemitisches Zentrum und nicht ein wichtiger Ort für queere und
antirassistische Arbeit
Sie halten die Kritik an der Bewegung für unfair?
Die Palästina-Aktivist*innen werden mitunter als Nazi-Wiedergänger
gedeutet. Da heißt es, die stehen vor jüdischen Läden wie die Nazis 1938.
Diese Art Antisemitismuskritiker*innen meint das durchaus ernst.
Sie sind subjektiv der Ansicht, gegen die BDS-Bewegung zu kämpfen, sei
antifaschistisch und dann sind quasi auch alle Mittel zulässig. Da findet
eine Vereindeutigung statt, die sich spiegelbildlich in der Borniertheit
von Teilen der Palästina-Bewegung zeigt.
Worin besteht diese?
Wenn ich etwa Vorträge über Antisemitismus halte – und ich rede nicht von
legitimer Kritik an Israel, auch radikaler –, gelingt es oft Leuten einfach
nicht, das kognitiv zu trennen. Die sagen dann: „Aber es ist doch so
schlimm in Gaza.“ Ja, es ist sogar extrem schlimm – aber das war nicht
Gegenstand des Vortrags. Das ganze Themenfeld ist hochgradig antagonistisch
und undiskursiv strukturiert. Es gibt nur noch wenige, die versuchen, mit
unterschiedlichen Leuten zu reden, unterschiedliche Stimmen
zusammenzubringen. Widersprüche werden nicht ausgehalten.
Steht sich die Bewegung selbst im Weg, ihr Hauptanliegen, das Leid in Gaza,
besser zu vermitteln?
Teilweise muss man das so sagen. In den USA gab es bei den
[5][Uni-Protesten] Slogans wie: „Hamas, we love your rockets, too“. Das
beschreibt beileibe nicht die ganze Bewegung, aber dass so was dort einen
Resonanzraum hat, ist ein Problem. Ein anderes Beispiel: Aus der
BDS-Bewegung wurde vor Kurzem die israelische Bewegung [6][„Standing
Together“] als neues Boykottziel ausgerufen. Dabei ist diese in Israel
derzeit die entschlossenste Stimme gegen den Krieg. Jetzt aber wird sie zum
Exponenten einer drohenden „Normalisierung“ des Kontakts mit dem „Feind�…
Diese Logik ist nicht progressiv und schwächt das Friedenslager.
Sie kritisieren, dass die Strategie nicht mehr reflektiert wird.
Es ist zu fragen, ob BDS oder die maximalistischen Slogans überhaupt etwas
für die Palästinenser*inne leisten. Man könnte hinterfragen, ob
alles, worauf man beharren kann, auch tatsächlich klug ist und wen man
verprellt. Ich finde, man darf das Mittel des Boykotts als Mittel gegen
Besatzung propagieren ohne sich gleich Antisemitismusvorwürfe anhören zu
müssen. Aber dass das für Jüdinnen und Juden hierzulande auch historische
Erinnerungen an den Judenboykott der Nazis weckt, könnte man mit einem
Mindestmaß an Empathie nachvollziehen. Genauso ist es mit [7][„From te
river to the sea“]. Das ist ein hochgradig offener Slogan. Der kann als
Forderung nach einem demokratischen Gemeinwesen für alle seine
Bewohner:innen gelesen werden. Oder aber in Hamas-Diktion als jene nach
einem rein palästinensisch-islamischen Staat. Ich würde mir mehr Klarheit
wünschen.
Wie ist es mit dem Beharren auf einer Begrifflichkeit wie „Apartheid“?
Der Begriff hat vor allem den historischen Kontext Südafrika. Es ist
mittlerweile aber auch ein Rechtsbegriff, der zwar aus dieser Erfahrung
schöpft, aber eine eigene Bestimmung gefunden hat. Man müsste eigentlich
eine Diskussion über die verschiedenen historischen, politischen,
rechtlichen und moralischen Implikationen des Begriffs führen, statt nur
Eindeutigkeiten zu postulieren. So ruft die eine Seite „eindeutig
Apartheid“, die andere findet auch nur die Diskussion darüber unerträglich
und vermutet eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr.
Sprechen diese Slogans der Bewegung für eine insgesamt eher unterkomplexe
Behandlung des Nahostkonflikts?
Es gib NGOs, die regelmäßiges Monitoring machen oder komplexe Analysen
schreiben, wissenschaftliche Beobachter:innen der Debatte, die sich
politisch engagieren. Aber in den Solidaritätsgruppen auf den Straßen gibt
es oft ein martialisches Auftreten, samt der Gefahr, den Nationalismus der
eigenen Seite im Konflikt zu übernehmen. Dabei war man da eigentlich schon
weiter. In den 1970/80er Jahren hatten Linke große Hoffnungen in
Befreiungsnationalismen als Akteure revolutionären Fortschritts gesetzt.
Wir wissen, dass diese Hoffnung so nicht gerechtfertigt war. Geschichte
wiederholt sich.
Wie ginge es besser?
Es müsste darum gehen, den Universalismus wieder hochzuhalten. In so einem
komplexen Konflikt kann man sich nicht so einfach auf eine Seite stellen.
Man kann trotzdem Position ergreifen, aber in konkreten Fragen: gegen den
Krieg, gegen die Besatzung, gegen die Siedlergewalt, aber auch gegen die
korrupte Palästinensische Autonomiebehörde und die extrem reaktionäre und
terroristische Hamas. Aber in der Frage des Lebensrechts der Menschen in
Israel und Palästina muss man auf der Seite der allgemeinen Menschenrechte
stehen. Daran zu erinnern, ist wichtig, weil das in dem nationalen Furor
einiger in der Bewegung unterzugehen droht.
Welche Rolle spielt Antisemitismus für diese Rigorosität?
Ich halte das für einen Faktor, der nur einen kleinen Teil klärt. Der
zentrale Motor für eine sehr holzschnittartige Kritik ist die radikale
Identifikation mit einer Konfliktseite. Genuin antisemitische Muster
spielen eine Rolle, gehören etwa zur Programmatik der Hamas, aber das
reicht nicht, um die Wut zu erklären. Nochmal zur Parole „From te river to
the sea“: Sie wird als antisemitisch ausgelegt, weil sie den Anspruch auf
das gesamte Land erhebt. Schaut man nach Israel, findet man aber auch
überall Landkarten, in denen nichtisraelische Territorien Israel
zugeschlagen werden. Man sieht: Das sind universelle Muster in
gewalttätigen Konflikten, wo auf beiden Seiten maximalistische Positionen
vertreten und die Ansprüche des Konfliktgegners negiert werden.
Der Antisemitismusvorwurf kommt zu schnell?
Es wird mit teils sehr schlichten Definitionen operiert, wie dem 3D-Test
für Antisemitismus, der die Kriterien Dämonisierung, Delegitimierung und
doppelte Standards postuliert. Doch das sind alles Muster, die in
eskalierten Konflikten zu beobachten sind. Das ist nichts spezifisch
Antisemitisches. Richtig ist dagegen: In der Logik des Konflikts erhöht
sich die Neigung zur Übernahme antisemitischer Deutungen als Munitionierung
der eigenen Position. Damit ist der Nahostkonflikt natürlich nicht die
Ursache für Antisemitismus, aber befeuert ihn.
Die Szene hat es oft nicht vollbracht, sich von eindeutig
grenzüberschreitenden Stellungnahmen nach der Hamas-Attacke zu
distanzieren. Warum?
Viele Leute formulieren solche Kritik wahrscheinlich nicht, weil sie
glauben, dass das die eigene Seite schwächt. Es gibt außerdem eine
Renaissance autoritär-linker Gruppen, die in ihrem simplen
Antiimperialismus auch im Hamas-Terror revolutionäre Impulse schlummern
sehen. Dabei bräuchte es die Kritik, um sich nicht einzumauern und sich vor
Selbstverblödung zu schützen. Eine Schutzmechanismus ist die Einbindung in
andere politische Diskurse und Themen. Wo nur Palästina-Solidaritätsarbeit
gemacht wird, versteigt man sich eine eigene politische Welt, die
ausschließlich von diesem Thema strukturiert wird.
Der Staat agiert derzeit sehr unnachgiebig gegen die propalästinensische
Bewegung. Wie bewerten Sie das?
Es ist unglaublich, wie etwa der Palästina-Kongress plattgemacht wurde mit
Einreise- und Betätigungsverboten unter hanebüchenen Voraussetzungen, die
den Organisator:innen nicht einmal die Chance gelassen haben, sich
„korrekt“ zu verhalten. Da kommt ein staatspolizeiliches Ideal zu tragen,
unter dessen Banner Staatsräson durchgedrückt wird, ähnlich wie bei den
Police Riots zum G20-Gipfel in Hamburg. Gedeckt von der nachvollziehbaren
moralischen Empörung und der Politik werden hier Grundrechte ausgehebelt.
Das sind hochautoritäre Tendenzen, die am Ende auch andere Akteur:innen
treffen werden.
2 May 2024
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## AUTOREN
Erik Peter
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Innensenatorin Iris Spranger
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