# taz.de -- Palästinenserin und Jude über den Krieg: „Frieden ist möglich … | |
> Gibt es einen Ausweg aus dem Nahostkrieg? Ja, sagen die Palästinenserin | |
> Rula Daood und der Jude Alon-Lee Green von der Bewegung Standing | |
> Together. | |
Bild: „Unsere Menschlichkeit steht auf dem Spiel“: Rula Daood und Alon-Lee … | |
wochentaz: Frau Daood, Herr Green, Ihre [1][palästinensisch-jüdische | |
Bewegung „Standing Together“] setzt sich in Israel für Frieden ein. Ist das | |
mitten in einem solchen Krieg überhaupt möglich? | |
Alon-Lee Green: Es ist natürlich schwieriger geworden. Aber eine Krise | |
diesen Ausmaßes ist auch ein Moment der Klarheit: Wir haben verstanden, | |
dass dies unsere Lebensaufgabe ist. Wir haben uns noch nie sicher gefühlt | |
in unserem Land. | |
Was meinen Sie damit? | |
Green: Ich wurde zwei Tage nach dem Beginn der ersten Intifada geboren. Ich | |
hatte meine Bar Mitzwa während [2][der zweiten Intifada]. Mein Bruder und | |
ich durften als Kinder wegen der Gefahr von Attentaten nicht Bus fahren, | |
wir sind stattdessen 25 Minuten zur Schule gelaufen. Das ist nicht normal. | |
In den letzten anderthalb Jahrzehnten dann folgte Krieg auf Krieg auf | |
Krieg, und das Ergebnis war immer das gleiche: unzählige Tote, und mehr und | |
mehr Hass auf beiden Seiten. Aber keine Sicherheit, für niemanden. So kann | |
es nicht weitergehen. | |
Rula Daood: Wir alle sind [3][am 7. Oktober] vom Dröhnen der Sirenen | |
aufgewacht. Ich habe an diesem Tag stundenlang versucht, eine Freundin zu | |
erreichen, die auf [4][das von der Hamas angegriffene Festival] in der | |
Wüste wollte. Eine Palästinenserin. Sie ging nicht ans Telefon. Irgendwann | |
hat sie doch geantwortet, und ich war so erleichtert zu hören, dass sie | |
nicht gefahren war. Diese Tage waren traumatisierend für uns alle. Auch wir | |
als Aktivisten waren paralysiert. Aber dann wurde uns klar: Unsere Arbeit | |
ist wichtiger denn je. | |
Sie sind als palästinensische Bürgerin Israels doppelt betroffen. | |
Daood: Ja, zwei Tage nach dem 7. Oktober kamen [5][die Bilder aus Gaza] | |
dazu: Tote Kinder, Mütter, die ihre Babys im Arm halten – und ich hatte in | |
Israel keinen Raum, das zu betrauern. Diese Räume haben wir mit Standing | |
Together dann selbst geschaffen. | |
Wie muss man sich das vorstellen? | |
Daood: Wir bringen die zusammen, die einen anderen Weg gehen wollen. Die | |
verstehen, dass man die Hamas nicht zerstören kann, indem man Gaza in Grund | |
und Boden bombt. Wir haben Kundgebungen organisiert, auf der Menschen ihrer | |
Angst und ihrem Schmerz Raum geben konnten, Juden wie Palästinenser. Wir | |
wollen zeigen, dass man Dinge zusammen erreichen kann. Wir haben zum | |
Beispiel in gemischten Teams öffentliche Luftschutzräume aufgeräumt und | |
ausgestattet, und wir haben eine Hotline eingerichtet für Menschen, die | |
Rechtsberatung brauchen. Denn dieser Tage verlieren Menschen ihren Job oder | |
werden verhaftet, wenn sie lediglich das Leid der Menschen in Gaza | |
benennen. | |
Welche Reaktionen erleben Sie auf Ihre Arbeit? | |
Green: Natürlich werden wir auch angefeindet. Für die israelische Rechte | |
ist es schon Verrat, über Frieden nur laut zu sprechen. Aber wir stehen | |
hier an einem Scheideweg. Und mein Gefühl ist: Immer mehr Menschen in | |
Israel verstehen gerade, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Es | |
ist auch eine Chance. | |
Daood: Standing Together hat so viel Zulauf wie noch nie. Die Zahl unserer | |
Aktivisten hat sich seit dem 7. Oktober verdoppelt. Vor allem junge | |
Palästinenser kommen gerade neu zur Bewegung. | |
Wann haben Sie Standing Together gegründet? | |
Green: Das war 2016, während der sogenannten Messerintifada. Damals | |
eskalierte die Gewalt innerhalb Israels. Keine der Parteien hatte den | |
Menschen eine echte Alternative zu bieten, und gerade die linken Parteien | |
konnten schon lange nicht mehr die Massen mobilisieren. Es gab eine Lücke | |
zu füllen. | |
Warum haben Sie dann keine Partei gegründet? | |
Daood: Um die Realität zu ändern, müssen die Menschen ihre Perspektive | |
verändern. Das geht nicht von oben. Als Graswurzelbewegung verstehen wir es | |
als unsere Aufgabe, von unten zu wirken. Wir müssen den Menschen zeigen, | |
dass es einen anderen Weg gibt als den, [6][den Premierminister Netanjahu] | |
seit Jahren als den einzig möglichen vorgibt. Dass Frieden möglich und | |
nötig ist. | |
Standing Together fordert einen Waffenstillstand. Gleichzeitig beschießt | |
die Hamas weiterhin Israel und hat klar gemacht: Sie wird das Land wieder | |
und wieder angreifen, bis es vernichtet ist. Muss Israel sich da nicht | |
verteidigen? | |
Green: Natürlich muss ein Land seine Bürger verteidigen. So sehr ich gegen | |
diesen Krieg bin: Am 7. Oktober hätte ich sofort eine Uniform angelegt, | |
eine Waffe in die Hand genommen und versucht, die Menschen im Süden vor den | |
Terroristen zu schützen, die ins Land eingedrungen sind. Aber was bringt | |
das, was wir seither tun? Kann man die Hamas vernichten, indem man in Gaza | |
Hunderte Menschen mit einem einzigen Luftangriff tötet? Was ist die Idee | |
für den Tag nach den Kämpfen? Die Hamas existiert nicht nur in Gaza, und | |
sie ist nicht nur eine Terrororganisation. Die Hamas ist eine Idee. Und am | |
Ende des Tages wird Israel sie durch dieses Blutvergießen nur stärken. | |
Daood: Wir, und damit meine ich die Menschen in Israel und Palästina, | |
müssen verstehen: Unsere Schicksale sind miteinander verwoben. Es wird | |
keine Sicherheit für die Israelis geben ohne Befreiung der | |
Palästinenser*innen. Es wird aber auch keine Befreiung der | |
Palästinenser geben ohne Sicherheit für Israel. Auf diesem Land leben | |
Millionen Palästinenser und Millionen Juden, und egal was manche sich | |
vorstellen: Sie werden bleiben. Das ist unser aller Zuhause. Und wir | |
kämpfen dafür, dass alle Menschen hier in Sicherheit, Freiheit und | |
Unabhängigkeit leben können. | |
Und was muss aus Ihrer Sicht jetzt passieren? | |
Green: Wir müssen so viele Leben retten wie möglich. Das heißt: die Geiseln | |
nach Hause bringen und das Blutvergießen beenden. In diesem Krieg verlieren | |
wir alle. Israel konnte mit militärischen Mitteln in über 50 Tagen eine | |
einzige Geisel befreien – zum Preis Tausender toter Zivilisten. [7][Aber in | |
rund einer Woche Waffenstillstand wurden über 100 Geiseln befreit]. Wir | |
müssen zurück an den Verhandlungstisch. Der Kurs der israelischen Regierung | |
aber ist genau das Gegenteil. Unsere Minister erzählen, es gäbe in Gaza | |
keine unschuldigen Zivilisten, dass die Kinder von heute die Terroristen | |
von morgen sind. Israel ist im Krieg, aber wir als Gesellschaft sind es | |
auch. | |
Wie meinen Sie das? | |
Green: Auf dem Spiel steht nicht weniger als unsere Menschlichkeit. Wenn | |
wir die verlieren, dann verlieren wir auf Generationen die Möglichkeit, | |
hier ein normales Leben aufzubauen – auf beiden Seiten. | |
Wie haben Sie die internationalen Reaktionen auf den 7. Oktober | |
wahrgenommen? | |
Daood: Ich war enttäuscht. Die internationale Gemeinschaft hat sich so | |
radikalisiert, seien es Regierungen oder die Zivilgesellschaften. Jeder | |
stellt sich auf eine Seite, entweder Pro-Israel oder Pro-Palästina. Aber | |
das hat mit unserer Realität und unseren Zielen wenig zu tun. Wir sehen | |
nicht Seiten, wir sehen Menschen. Es ist einfach, in Berlin oder | |
[8][London] zu sitzen und sich für palästinensische Befreiung | |
auszusprechen. | |
Was erwarten Sie stattdessen? | |
Daood: Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, wir wollen, dass Druck | |
auf die israelische Regierung gemacht wird. Aber wir wollen auch, dass die | |
Menschen die Realität hier vor Ort anerkennen. Wenn wir es schaffen, mitten | |
im Krieg diese Komplexität anzuerkennen und die Menschen auf der anderen | |
Seite zu sehen – dann erwarten wir, dass andere das auch schaffen. | |
Es gibt Menschen, die haben die Verbrechen der Hamas als legitimen | |
Widerstand bezeichnet, mitunter sogar gefeiert. | |
Daood: Ja, und ich bin so wütend auf diese Menschen. Was die Hamas getan | |
hat, ist unverzeihlich. Das sage ich als Palästinenserin auch, weil dieses | |
schreckliche Massaker dem palästinensischen Kampf schadet. Meine | |
Unabhängigkeit und die meines Volkes wird nicht auf den Leichen junger | |
Menschen und in den Gazastreifen verschleppten Mädchen aufbauen. | |
Green: Auch die Reaktionen mancher internationaler Linker haben uns | |
entsetzt. Unschuldige Menschen werden umgebracht, und Menschen sagen dazu | |
ernsthaft: „Gaza breaks free“, oder: „Was dachtet ihr, wie Dekolonisierung | |
aussieht?“ Sind das wirklich die Werte, für die wir stehen? All diese | |
Begriffe wie Siedlerkolonialismus verschleiern, dass in Israel Menschen | |
leben. Ja, wir haben die rechteste Regierung in der israelischen | |
Geschichte. Aber wir sind nicht identisch mit ihr, [9][wir haben monatelang | |
gegen diese Regierung protestiert]. Ich bin gegen die Besatzung, aber ich | |
bin auch Israeli. Soll ich mich vor einen Hamas-Terroristen stellen und | |
sagen: Bitte erschieß mich, ich bin ein Kolonialist? Fakt ist, dass wir | |
alle auf diesem Land leben, und dass wir eine gemeinsame Lösung finden | |
müssen. Wenn du dazu nicht beitragen kannst, sondern nur interessante, aber | |
völlig realitätsferne Essays über große Begriffe schreiben möchtest: Dann | |
tritt bitte zur Seite, du hilfst uns nicht. | |
Daood: Wir wollen, dass die Menschen im Westjordanland frei sind von | |
Besatzung und Gaza nicht mehr militärisch abgeriegelt wird. Wir wollen, | |
dass palästinensische Staatsbürger Israels die gleichen Rechte haben wie | |
jüdische. Und deswegen finden wir gut, dass hier in Deutschland und überall | |
Menschen dafür auf die Straße gehen. Wir wollen aber auch Sicherheit für | |
die jüdischen Menschen in Israel. Deswegen bitte, wenn ihr hier eure Stimme | |
erhebt: Erhebt sie für uns alle. Wir alle, Juden und Palästinenser, | |
verdienen ein Leben in Freiheit und Sicherheit. | |
9 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.standing-together.org/en | |
[2] /Heimatverlust-in-Israel/!5964986 | |
[3] /Eskalation-in-Nahost/!5965538 | |
[4] /Entfuehrte-Israelis-in-Gaza/!5966211 | |
[5] /Unter-israelischer-Belagerung/!5962725 | |
[6] /Benjamin-Netanjahus-Kriegsrhetorik/!5964144 | |
[7] /Israelische-Geiseln-in-Gaza/!5973878 | |
[8] /Pro-Palaestina-Demo-in-London/!5972293 | |
[9] /Proteste-in-Israel/!5957871 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Palästina | |
Israel | |
Friedensbewegung | |
GNS | |
Antisemitismus | |
IG | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Kriegsende | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Kolumne Grauzone | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Demo von Israelis in Berlin: Ein wenig Diversität | |
Linke Israelis protestieren vor dem Auswärtigen Amt gegen die israelischen | |
Angriffe auf Gaza – und deren kritiklose deutsche Unterstützung. | |
Versäumnisse vor und nach dem 7. Oktober: In Israel werden die Fragen lauter | |
Israels Staatsprüfer kündigt eine umfangreiche Aufarbeitung des | |
Hamas-Überfalls an. Netanjahus Koalition steht zunehmend unter Druck. | |
Historiker über Wege zum Frieden: „Wann ist Krieg reif für Frieden?“ | |
An vielen Orten auf der Welt herrscht Krieg. Wie kann hier nachhaltiger | |
Frieden geschlossen werden? Ein Gespräch mit dem Historiker Jörn Leonhard. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: „Der Anfang vom Ende“ | |
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fordert Hamas-Kämpfer zur | |
Aufgabe auf. WHO sieht katastrophale Folge des Konflikts. Israel zählt 100. | |
toten Soldaten. | |
Palästinensischer Botschafter zu Gaza: „Die Welt schaut zu“ | |
Der palästinensische Botschafter in Berlin, Laith Arafeh, wirft Israel in | |
Gaza einen Genozid vor. Einer Verurteilung des Hamas-Terrors weicht er aus. | |
Mechanismen des Antisemitismus: Ideologie, Hass, Ignoranz | |
Zwei Monate nach dem Terroranschlag der Hamas ist die Frage noch immer | |
unbeantwortet: Wie soll man mit den Leugnern und Verharmlosern | |
zusammenleben? | |
Israel als Symbol des Bösen: Das projizierte Feindbild | |
Eine Weltsicht, die die Menschheit in Unterdrücker und Unterdrückte | |
einteilt, bietet keinen Platz für distanzierte Betrachtung. Ein Blick in | |
die USA. | |
Kritik an Israel wird schärfer: Die Zeit spielt für die Hamas | |
Zwei Monate nach dem Hamas-Überfall lässt das Leid der Zivilbevölkerung die | |
Unterstützung für Israels Gegenangriff schwinden. Kann Israel gewinnen? | |
Israel auf der Klimakonferenz: Wüstenbildung und Wasserknappheit | |
Der Gaza-Krieg hat das Thema Erderhitzung in Israel in der | |
Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen. Dabei leidet das Land stark unter | |
dem Klimawandel. | |
Appell des UN-Generalsekretärs zu Gaza: Brandbrief für den Frieden | |
UN-Generalsekretär António Guterres hat erneut dazu aufgerufen, eine | |
humanitäre Katastrophe in Gaza zu verhindern. Israel reagiert empört. | |
Brandbrief des UN-Generalsekretärs: Die Weltmächte sind jetzt gefragt | |
In einem einmaligen Vorgang appelliert António Guterres an den | |
UN-Sicherheitsrat. Der sollte darauf hören und Verantwortung in Gaza | |
übernehmen. |