| # taz.de -- Proteste in Israel: Orthodox und gegen Bibi | |
| > Vor allem in Tel Aviv ist der Protest gegen die rechtsreligiöse Koalition | |
| > Israels stark. Doch auch bei Siedlern formiert sich Widerstand. | |
| Bild: Orthodoxe Jüdinnen und Juden protestieren in der Siedlung Efrat gegen di… | |
| Efrat taz | Moshe Beigel ist einer der ersten, die zur Demo kommen. Moshe | |
| ist nicht zu übersehen, er ist wohl an die zwei Meter groß. Er trägt ein | |
| dunkelblaues T-Shirt, auf dem in weißen Lettern steht: „Frei in unserem | |
| Land.“ Auf Hebräisch sind das nur zwei Wörter – „chofschi beartzenu“ … | |
| Zitat aus der israelischen Nationalhymne, Hatikwa. Wir befinden uns in der | |
| Siedlung Efrat, einige Kilometer jenseits der Grünen Linie, die seit dem | |
| Waffenstillstandsabkommen von 1949 als international anerkannte Grenze | |
| gilt. Knapp 12.000 Einwohner hat die Siedlung, die vor 40 Jahren gegründet | |
| wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich einige palästinensische | |
| Städte und Dörfer. | |
| Es ist Samstagabend, kurz vor neun. Die Sonne ist vor einer guten Stunde | |
| untergegangen, der Schabbat ist vorbei. Seit Anfang dieses Jahres wird an | |
| vielen Orten in Israel an jedem Samstagabend gegen die Reformpläne der | |
| ultrarechten Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu protestiert. Viele | |
| im Land befürchten, dass die von der Regierung bereits in Gang gesetzte | |
| Justizreform, aber auch viele andere ihrer insgesamt 225 Gesetzesvorhaben, | |
| [1][die Gewaltenteilung aufheben und demokratische Rechte stark | |
| einschränken] werden. | |
| Zwar dominieren die Bilder der Massenproteste in Tel Aviv und Jerusalem die | |
| Berichterstattung, aber der Widerstand reißt auch an vielen kleinen Orten | |
| nicht ab. In Efrat versammeln sich an diesem Augustabend peu a peu gut 50 | |
| Menschen. Sie tragen israelische Flaggen und haben blau-weiße Banner | |
| aufgehängt. Auf einem steht: „Links und rechts gegen die Zerstörung.“ | |
| Ein Samstag wie jeder andere, und eine kleine Demonstration. Nichts | |
| Außergewöhnliches, könnte man meinen. Kämen die Menschen, die hier | |
| demonstrieren, nicht aus dem nationalreligiösen Lager. Sie wohnen in der | |
| Siedlung und der nahen Umgebung. Auch Moshe Beigel lebt seit 30 Jahren mit | |
| seiner Familie hier. Vor 40 Jahren ist er aus Großbritannien nach Israel | |
| eingewandert. | |
| Efrat gilt als moderate Siedlung. Hier werden die Straßen am Schabbat nicht | |
| für den Verkehr geschlossen. Es leben religiöse Menschen aller | |
| Schattierungen hier, inzwischen auch einige säkulare Israelis, erzählt | |
| Moshe Beigel. „Wir kommen meist sehr gut miteinander klar. Wir hoffen, dass | |
| das so bleibt.“ Die Gegend ist schön, das Klima angenehm, die Wohnungen | |
| sind billiger. | |
| Tel Aviv ist weit weg. Dort schwitzen die Leute jetzt in der schwülen | |
| Abendhitze. In Efrat weht ein kühler Wind. Alle Männer auf der kleinen | |
| Demonstration tragen Kippa, viele Frauen haben ihr Haar bedeckt. Die | |
| meisten bezeichnen sich als orthodox. | |
| Auch Moshe Beigel trägt Kippa. Das hat er schon als junger Mann in London | |
| getan. Er trug seine Kippa, obwohl er sich mit ihr als Jude outete und im | |
| England der 1970er und 1980er Jahre nicht vor antisemitischen Anfeindungen | |
| sicher fühlen konnte. Er war immer stolz darauf, die Kippa zu tragen, sagt | |
| Moshe. Inzwischen sei er zwar weniger stolz als früher, aber das sei nun | |
| mal seine Identität. „Und die lasse ich mir von niemand wegnehmen.“ Moshe | |
| Beigel reagiert inzwischen auf seine eigene Kippa wie viele säkulare | |
| Menschen in Israel. Sie ist für sie zum politischen Symbol für den | |
| Rechtsruck, wenn nicht gar für eine drohende Diktatur durch die Extremisten | |
| der Siedlerbewegung geworden, die nun in Netanjahus Regierung den Ton | |
| angeben. | |
| Als Folge des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 hatte die israelische Armee das | |
| Land zwischen der Waffenstillstandslinie von 1949 und dem westlichen Ufer | |
| des Jordan besetzt. Die Zeit der Siedlungsbewegung war gekommen: Die Männer | |
| vom Gusch Emunim – „Block der Treuen“ – präsentierten sich wie die alt… | |
| Siedlerpioniere in ausgemusterten Armeeparkas und groben Hemden, darunter | |
| lugten allerdings die weißen Schaufäden hervor, die orthodoxe Juden tragen. | |
| Sie stürmten Mitte der 1970er Jahre „wie ekstatische Anhänger einer | |
| kultischen Sekte“ ins israelische Bewusstsein, schrieben die Historikerin | |
| Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar, die vor 20 Jahren [2][die | |
| erste umfassende Studie über die Bewegung vorlegten.] Seitdem habe die | |
| Siedlungsbewegung der israelischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt. | |
| Die Erlösungsideologie des Gusch Emunim gründete sich auf die Schriften von | |
| Zvi Yehuda Kook, dessen Vater Avraham Jitzchak Hacohen Kook Anfang des 20. | |
| Jahrhunderts nach Palästina eingewandert war. Kook, der Ältere, erklärte, | |
| der künftige Staat Israel werde der heilige „Wohnsitz Gottes“ sein. Theodor | |
| Herzl, den Vordenker des modernen Staats Israel, lobte er als Messias aus | |
| dem Hause Joseph, weil Herzl die Rückkehr nach Zion eingeleitet hatte. | |
| Der säkulare Zionismus stimme mit dem göttlichen Plan überein, erklärte | |
| Kook. Kook war ein anerkannter Schriftgelehrter, der den künftigen Staat | |
| Israel mit Blick auf seine religiöse Bedeutung interpretierte. Sein Sohn | |
| Zvi Yehuda Kook wurde jedoch zur führenden spirituellen Kraft einer Gruppe | |
| nationalreligiöser junger Leute, die den inzwischen gegründeten säkularen | |
| Staat verändern wollten, „der nicht zulässt, dass die Tora Israels Gestalt | |
| bestimmt“. Mit den Mitteln direkter Aktion und politischer Einflussnahme | |
| wollten sie selbst am göttlichen Erlösungsplan mitwirken. Sie würden das | |
| ganze Land besiedeln. | |
| [3][Unterstützt wurde der Gusch Emunim dabei von allen israelischen | |
| Regierungen], ob links oder rechts. Der Block war keine Partei, sondern | |
| eine Erlösungsbewegung, die ständig neue Siedlungen errichtete und vor | |
| Hetzkampagnen gegen Politiker nicht zurückschreckte, wenn diese weniger | |
| messianischen Eifer an den Tag legten als sie selbst. Der Bewegung gelang | |
| es im Lauf der Jahrzehnte, Abermillionen Schekel in die Infrastruktur von | |
| Siedlungen zu lenken – und die Nationalreligöse Partei in eine immer | |
| extremere Richtung zu drehen, bis diese sich auflöste. Heute sitzen die | |
| „Soldaten des Messias“ in der Regierung. | |
| Tsuf Peles ist einer von denen, die mit anderen Augen auf den | |
| nationalreligiösen Teil der Bevölkerung blicken als früher. Tsuf Peles | |
| wohnt in Tel Aviv. Er lebt säkular, denkt liberal und arbeitet in der | |
| Hightech-Branche. Er ist ein typischer Vertreter der Tel Aviver | |
| Protestbewegung. Als er gefragt wurde, ob er einen deutschen Journalisten | |
| von Tel Aviv nach Efrat bringen könne, meldete er sich bei mir. Orthodoxe | |
| Juden aus einer Siedlung, die gegen die Regierung demonstrieren und für die | |
| Demokratie kämpfen? Das wollte er sich auch selbst gern anschauen. | |
| Wenn er heute einen Mann mit Kippa sähe, erzählt mir Tsuf im Auto auf dem | |
| Weg nach Efrat, frage er sich unwillkürlich, ob das auch einer dieser | |
| Extremisten sei, die sich gegen die israelische Demokratie verschworen | |
| haben. Dass das ein Klischee ist, weiß Tsuf Peles. Der Gedanke sei ihm | |
| unangenehm, aber er lasse sich nicht mehr verscheuchen. Der Graben zwischen | |
| Säkularen und Gläubigen ist tiefer geworden – und eben deswegen will Tsuf | |
| mich nach Efrat fahren. Er zeigt auf den Verkehr vor uns: „Schau, wir | |
| fahren hier gemeinsam mit Palästinensern, das ist normal und es sollte auch | |
| normal sein, wir leben hier zusammen.“ | |
| Moshe Beigel aus Efrat weiß inzwischen, wie es ist, mit den Augen von | |
| Leuten angeschaut zu werden, die vorbehaltlos hinter der Regierung stehen – | |
| obwohl er selbst aus dem nationalreligiösen Lager kommt: „Als ich kürzlich | |
| von einer Demonstration in Jerusalem kam – ich hatte eine israelische Fahne | |
| dabei – rief mir jemand aus dem Auto zu: ‚Geh doch zurück nach Berlin!‘�… | |
| Die Botschaft war unmissverständlich: Leute wie Moshe, die gegen die | |
| Regierung demonstrieren, hätten in Israel nichts zu suchen. Sie seien | |
| bestens in der Diaspora, in Berlin aufgehoben, wohin es viele Israelis | |
| wegen der schwierigen Wirtschaftslage, [4][aber auch wegen der Dominanz | |
| rechter Politik in ihrer Heimat gezogen hat.] | |
| Das traf Moshe Beigel ins Herz. „Ich bin ein Kind von | |
| Holocaustüberlebenden. Mein Vater stammt aus Hannover, meine Mutter aus | |
| Moers. Eines meiner Kindheitstraumata ist, dass uns in England Leute anonym | |
| anriefen und sagten: Geht zurück nach Deutschland!“ So etwas nun auch hier, | |
| in Israel, zu hören, sei sehr traurig, sagt Moshe. „Aber wir werden es | |
| schaffen, wir haben keine andere Wahl.“ | |
| Sie seien zwar nur ungefähr hundert, die in Efrat gegen die Regierung und | |
| für Demokratie demonstrieren. Es falle vielen nicht leicht, auf eine | |
| Demonstration zu gehen, meint Moshe. Dass das versprengte Häuflein am | |
| Verkehrskreisel aber nicht allein auf weiter Flur ist, zeigt sich, wenn | |
| Autos vorbei kommen und die Fahrerinnen und Fahrer zustimmend hupen. | |
| Allerdings haben bei der letzten Wahl 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler | |
| in Efrat für die Religiösen Zionisten gestimmt, auf deren Liste sich auch | |
| die Splitterparteien Otzma Yehudit und Noam befanden. Sie gaben ihre | |
| Stimmen also dem nationalreligiösen Extremismus. Die Partei des Religiösen | |
| Zionismus wurde vom mythischen „ersten Siedler“ Hanan Porat auf den | |
| Trümmern der einst als Kraft der linken Mitte geltenden Nationalreligiösen | |
| Partei gegründet. | |
| Der derzeitige Vorsitzende der Religiösen Zionisten, Bezalel Smotrich, ist | |
| Finanzminster der Regierungskoalition. Er ist bekennender Homophober und | |
| Ultranationalist. Nach einem Mordanschlag auf zwei junge Siedler in Huwara | |
| und einem darauffolgenden Pogrom radikaler Siedler hatte Smotrich erklärt, | |
| der Staat solle die palästinensische Kleinstadt dem Erdboden gleichmachen. | |
| Später bat er dafür um Entschuldigung. | |
| Der Vorsitzende der Noam, der zweiten Partei auf der Liste der Extremisten, | |
| ist ein Rabbiner. Er hat sich vor allem mit seiner Feindseligkeit gegenüber | |
| der LGBTIQ-Gemeinde einen Namen gemacht. [5][Itamar Ben-Gvir] von Otzma | |
| Jehudit, der dritten Partei im Bunde der religiösen Ultranationalisten, ist | |
| ein Schüler von Rabbi Meir Kahane, der in den 1980er Jahren vor leerem | |
| Plenum sprechen musste, wenn er in der Knesset eine Rede hielt. Trat er ans | |
| Pult, verließen bis auf den Parlamentsvorsitzenden und die Stenotypistin | |
| alle Mitglieder der Knesset den Saal. Die Brandmauer gegen Extremisten | |
| stand damals noch. Selbst das nationalreligiöse Lager wollte mit Kahane | |
| nichts zu tun haben. Heute ist sein Schüler Itamar Ben-Gvir als Minister | |
| für die Sicherheit des Landes und damit auch für die Polizei | |
| verantwortlich. | |
| In einer Talkshow sagte Ben-Gvir jüngst einem arabisch-israelischen | |
| Journalisten, der in der Runde saß: „Sorry, Mohammad, mein Recht, das Recht | |
| meiner Frau und meiner Kinder, sich frei in Judäa und Samaria zu bewegen, | |
| ist wichtiger als die Bewegungsfreiheit von Arabern. Das Recht auf Leben | |
| ist wichtiger als das Recht, sich ungehindert bewegen zu können.“ | |
| Judäa und Samaria sind die biblischen Namen für die von Israel | |
| kontrollierten Gebiete westlich des Jordans. Moderate Kritiker Ben-Gvirs | |
| warfen dem Minister daraufhin Rassismus vor. Linke kommentierten trocken, | |
| Ben-Gvir beschreibe doch nur, wie es auf der Westbank zugehe. Das Problem | |
| sei nicht das Bekenntnis des Ministers zu jüdischer Überlegenheit, sondern | |
| die Tatsache, dass sie seit Jahrzehnten von Staat und Armee gegenüber den | |
| Palästinensern durchgesetzt werde. | |
| Ich frage Moshe Beigel, warum er heute Abend hier ist. „Wir machen uns | |
| Sorgen über die demokratische Zukunft Israels“, antwortet er. Sie wollten | |
| Israel als moderne, offene Gesellschaft erhalten. Inzwischen ist er | |
| optimistisch, dass die Protestbewegung Erfolg haben wird. „Die Regierung | |
| beginnt langsam zu verstehen, dass die Mehrheit der Menschen in Israel | |
| gegen eine Diktatur ist. Religiösen Fanatikern wird es nicht gelingen, eine | |
| säkulare jüdische Gesellschaft zu ruinieren.“ | |
| Politisch stehe er rechts, sagt Moshe – eben deswegen sei er hier. Der | |
| Likud, die Partei des Ministerpräsidenten, der er früher selbst angehörte, | |
| gehe in die Irre. „Vor Kurzem wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben als | |
| Linker bezeichnet – von einem meiner Nachbarn. Dabei bin ich alles andere | |
| als ein Linker.“ Moshe Beigel ist Zionist. Er betrachtet die Gebiete | |
| westlich des Jordans als einen Ort, an dem Juden leben können sollten. | |
| Efrat ist nur zwölf Minuten von Jerusalem entfernt. | |
| Er könne den Tempelberg von seinem Haus aus sehen. „Das ist kein fremdes | |
| Land hier,“ sagt er, und ergänzt: „Kein Araber wurde von diesem Stück Land | |
| hier vertrieben. Wir leben so friedlich wie möglich mit unseren arabischen | |
| Nachbarn zusammen, aber wir müssen realistisch sein.“ Wie stellt er sich | |
| die Zukunft des Landes vor? „Alle bleiben in ihren Häusern, keiner muss | |
| wegziehen. Es soll einen jüdischen Staat geben und ein wie auch immer | |
| geartetes Gemeinwesen für die Araber, über das noch entschieden werden | |
| muss.“ | |
| Inzwischen ist die Versammlung am Verkehrskreisel in Efrat größer geworden, | |
| und Avidan Freedman, Anzughose, blaues Hemd, greift zum Mikrofon. Die Leute | |
| bilden einen Halbkreis. Freedman ist einer der Organisatoren des Protests | |
| in Efrat. Der ausgebildete Rabbiner arbeitet als Lehrer in einer Schule für | |
| Jungen in Jerusalem. Dort unterrichtet er den Talmud, jüdische Geschichte | |
| und Recht. Dass er sich politisch einmischt, ist für ihn nichts Neues. Vor | |
| einigen Jahren hat er eine Organisation gegründet, die sich gegen | |
| israelische Waffenexporte an Diktaturen engagiert. | |
| Freedman zitiert aus dem Abschnitt der Tora, der an diesem Schabbat gelesen | |
| worden ist. Es trifft sich, dass dieser Abschnitt vom Recht handelt, dem | |
| sich auch die Könige zu beugen haben. Die berühmteste Stelle lautet: | |
| „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben | |
| hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir | |
| gibt.“ | |
| Auf Freedman folgen weitere Rednerinnen und Redner. Ein Rabbiner zitiert | |
| aus den Schriften von Kook, dem Älteren. Auch ein Ex-General, der einige | |
| Jahre das Büro von Netanjahu geleitet hat und nun gegen dessen neue | |
| Regierung kämpft, hat die Einladung nach Efrat angenommen. Zwischendurch | |
| wird Musik gespielt. Am Ende singen alle die Nationalhymne. | |
| Vorher aber hat sich noch Tsuf Peles gemeldet und gefragt, ob er auch ein | |
| paar Worte sprechen dürfe. In Tel Aviv zu demonstrieren sei keine Kunst, | |
| sagt er, hier aber schon. Dafür zolle er den Demonstranten von Efrat | |
| Respekt. Es sei in der Tat nicht leicht, erzählt nach dem Ende der Demo | |
| eine Frau, die schon lange in Efrat lebt. Weder mit ihren Nachbarn könne | |
| sie über die Lage im Land sprechen, noch mit ihrer Familie. Alle stünden | |
| vorbehaltlos hinter der Regierung. Das schmerze sie, weil es hier nicht um | |
| Politik gehe, sondern um grundlegende Werte, über die sich doch alle einig | |
| sein sollten. | |
| ## Aus den Augen, aus dem Sinn | |
| Andere Gläubige haben es leichter. In einem Interview, das ich später mit | |
| Shira Ben Sasson Furstenberg via Zoom führe, erklärt mir die Aktivistin, | |
| sie lebe im Süden Jerusalems in einer Welt, in der sich Religiösität und | |
| Linkssein nicht ausschließen. Shira Ben Sasson Furstenberg ist orthodox. | |
| Sie bedeckt ihr Haar, wenn sie das Haus verlässt. Aber sie geht in eine | |
| egalitäre Synagoge, in der auch Frauen aus der Tora lesen. Sie kommt wie | |
| die Siedler in Efrat aus dem nationalreligiösen Lager. Ihr Großvater Josef | |
| Burg, der aus Deutschland stammte, war Vorsitzender der Nationalreligiösen | |
| Partei und Minister in verschiedenen israelischen Regierungen. | |
| Shira Ben Sasson Furstenberg ist stellvertretende Direktorin des [6][New | |
| Israel Fund], einer Organisation, die sich für eine gerechte und inklusive | |
| Gesellschaft einsetzt, und sie ist Mitglied der kurz nach den Wahlen | |
| gegründeten Gruppe HaSmol HaEmuni – die Linke der Gläubigen. „Wir haben d… | |
| Namen gewählt, weil in unserer Gruppe das gesamte traditionelle religiöse | |
| Spektrum vertreten ist, von orthodoxen bis ultra-orthodoxen Gläubigen.“ Als | |
| Kind habe sie in der Jugendbewegung der Nationalreligiösen Partei gelernt, | |
| sich ein Dreieck vorzustellen, erzählt sie. Dessen drei Ecken bestünden aus | |
| dem Volk, dem Land und der Tora Israels, und es sei die Aufgabe aller, | |
| diese drei Punkte in ihrem täglichen Tun zu verknüpfen. Heute stehe im | |
| nationalreligiösen Milieu das Land über allem, kritisiert sie. | |
| Für die erste Konferenz, die HaSmol HaEmuni in Jerusalem organisierte, | |
| meldeten sich knapp 1.000 Menschen an, 700 kamen. Dann begann die Gruppe, | |
| auch zu Demonstrationen zu gehen. Als Zehntausende im Juli nach Jerusalem | |
| marschierten, [7][um gegen die Verabschiedung des ersten Teils der | |
| Justizreform in der Knesset zu demonstrieren], brachte Shira Ben Sasson | |
| Furstenberg die Torarolle ihrer Familie zur Zeltstadt der Protestierenden | |
| in der Nähe des Parlaments. Dort folgten an die hundert Menschen dem Ruf | |
| von HaSmol HaEmuni zum Gebet. | |
| Die Symbolwirkung der Teilnahme gläubiger Juden an den Protesten ist kaum | |
| zu unterschätzen. Denn einer der Gründe der derzeitigen Spaltung des Landes | |
| liegt in der Unterscheidung zwischen „Juden“ und „Israelis“. Einer der | |
| amerikanischen Spindoktoren Benjamin Netanjahus erfand diesen Unterschied, | |
| um aus dem Antagonismus politisches Kapital zu schlagen: Die Unterstützer | |
| Netanjahus sollten das Gefühl haben, sie verträten das jüdische Erbe, | |
| während alle anderen verrückte Linke seien, die ihr Judentum angeblich | |
| vergessen hätten. | |
| Nun aber gibt es auch orthodoxe Juden aus dem nationalreligiösen Lager, die | |
| gegen die Regierung und ihre Politik demonstrieren. Das dürfte den | |
| Thinktanks, die Netanjahu mit Strategien für den Kulturkampf füttern, | |
| Kopfzerbrechen bereiten. Mit jeder orthodoxen Jüdin, mit jedem gläubigen | |
| Juden, die gegen die Regierung auf die Straße gehen, bröckelt das | |
| spalterische Narrativ der Regierung. | |
| Ein anderes Ergebnis ihrer Politik dürfte der Regierung noch weniger | |
| gefallen. Die Israelis haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, die | |
| Besatzung zu verdrängen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Zuge der | |
| Demokratiebewegung sind jedoch jene Stimmen lauter geworden, die sagen, es | |
| habe keinen Sinn, über Demokratie zu sprechen, wenn über die Besatzung | |
| geschwiegen wird. Die Parole „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“ war | |
| anfangs nur aus dem linken „Block gegen die Besatzung“ zu hören. Inzwischen | |
| wird auch auf der großen Protestbühne in Tel Aviv und im Fernsehen über die | |
| Besatzung und ihre Folgen für die Demokratie gesprochen. | |
| Am Verkehrskreisel in Efrat ist es ruhig geworden. Die meisten sind auf den | |
| Weg nach Hause. Die Kinder müssen ins Bett, morgen ist ein Arbeitstag. | |
| Avidan Freedman hat Flaggen und Plakate eingesammelt und die Tonanlage | |
| wieder abgebaut. Von Tsuf Peles, der auch hier sein Protest-Shirt aus Tel | |
| Aviv trägt, will er noch wissen, wo man am besten Shirts bedrucken kann. | |
| Bevor Avidan aufbricht, fasst er den Tenor der Versammlung zusammen. | |
| Historisch habe sich der religiöse Zionismus als Brücke zwischen religiösen | |
| und nationalen Ideen, zwischen dem Universellen und dem Partikularen | |
| begriffen, erklärt er. | |
| „Ich sehe es so: Israel kann nicht als jüdischer Staat überleben ohne eine | |
| starke Verbindung zum Judentum. Israel kann aber auch nicht als jüdischer | |
| Staat überleben, ohne sich zur Demokratie und zu den Menschenrechten zu | |
| bekennen.“ Das motiviere ihn und die anderen, hier, in einer Siedlung auf | |
| der Westbank, zu demonstrieren. Sie seien religiöse Juden, die gegen den | |
| Strom schwimmen. „Die Leute, die heute hier waren, definieren sich als | |
| religiös und rechts,“ sagt er. „Aber aus diesen Werten ergibt sich die | |
| Einstellung, dass die Regierung nicht nur dem Zusammenhalt der israelischen | |
| Gesellschaft sehr schweren Schaden zufügt, sondern auch dem Judentum | |
| selbst.“ | |
| Dann fährt auch Avidan Freedman nach Hause. Am nächsten Samstagabend wird | |
| er wohl wieder hier sein. | |
| 17 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Klage-gegen-Israels-Justizreform/!5956702 | |
| [2] /!246366/%20%3Chttps:/taz.de/!246366/ | |
| [3] /30-Jahre-Osloer-Abkommen/!5956646 | |
| [4] /Israelis-in-Berlin-gegen-Netanjahu/!5922297 | |
| [5] /Anfuehrer-der-Liste-Religioeser-Zionismus/!5889003 | |
| [6] https://www.nif-deutschland.de/ | |
| [7] /Justizreform-in-Israel/!5950633 | |
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| Ulrich Gutmair | |
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