# taz.de -- Autor Klein Halevi über Israel: „Jetzt verteidigen wir unser Lan… | |
> Yossi Klein Halevi sieht Israel durch die aktuelle Regierung geschwächt. | |
> Positive Signale kommen dafür von der dortigen Protestbewegung. | |
Bild: Polizisten tragen den Sarg von Dan Granot, einem Opfer der Hamas-Attacke … | |
wochentaz: Herr Klein Halevi, wie haben Sie den Moment erlebt, als Sie von | |
den Terroranschlägen der Hamas erfuhren? | |
Yossi Klein Halevi: In mehreren Schockwellen. Ich fragte mich: Wie sind die | |
so leicht durchgekommen? Die hochtechnisierte Grenze zu Gaza soll doch die | |
am besten geschützte Grenze der Welt sein? Im Laufe des Tages kam der | |
nächste Schock: Wo war die Armee, und warum taucht sie jetzt in diesem | |
Moment nicht auf? Insgesamt waren wir mit unserem eigenen militärischen | |
Versagen konfrontiert. Im Nahen Osten als einer der gefährlichsten Regionen | |
der Welt ist der Zusammenbruch der militärischen Verteidigungsfähigkeit | |
Israels eine absolute Katastrophe. | |
Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die terroristische Infiltration | |
geschehen konnte? | |
Es waren nur sehr wenige Soldaten an der Grenze, denn fast die gesamte | |
Division war ins Westjordanland verlegt worden. Dahinter stand die falsche | |
Annahme, die Hamas sei pragmatischer geworden und sei – im Gegensatz zur | |
Hisbollah an der Nordgrenze und Iran mit seinen Stützpunkten in Syrien – | |
keine wirkliche Bedrohung mehr. Am 7. Oktober befanden wir uns in einer Art | |
Zeitschleife. Genau [1][50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg] wurden wir | |
erneut von einem unerwarteten Angriff eines vollkommen unterschätzten | |
Todfeindes überrascht. | |
Welche Folgen hat das für die israelische Gesellschaft? | |
Am 7. Oktober ist das israelische Ethos der Selbstverteidigung ein Stück | |
weit verloren gegangen. Eigentlich sollte Israel der sichere Zufluchtsort | |
des jüdischen Volks sein. Dass Juden ohnmächtig, mit hinter dem Rücken | |
gefesselten Händen abgeschlachtet wurden, ist ein Verstoß gegen den | |
Zionismus. Israel existiert, weil solche Dinge nicht passieren sollten – | |
und ganz sicher nicht hier. Es geht nicht mehr nur um Macht und Ohnmacht | |
und den Verlust des israelischen Selbstvertrauens in die eigene | |
militärische Abschreckung. Sondern auch um die Frage, ob dieses Land eine | |
Zukunft hat, ob es sicher genug ist, um hier eine Familie zu gründen. Wenn | |
die Israelis anfangen, sich diese Fragen zu stellen, ist das der Anfang vom | |
Ende des Zionismus, der Anfang vom Ende des Versprechens einer nationalen | |
Heimat für das jüdische Volk. Ähnliche Fragen haben sich in den letzten | |
zehn Monaten schon so viele während ihres Kampfs gegen die Justizreform | |
gestellt. | |
Als Autor, Journalist und Bürger haben Sie sich klar positioniert. Wie | |
agiert die Protestbewegung nun, nach den Terrorangriffen und inmitten des | |
Kriegs? | |
Im Moment unserer aller Bedrohung von außen haben wir unsere | |
Organisationsstruktur umgestellt. Für uns ist das kein Widerspruch, uns an | |
der Kriegsanstrengung zu beteiligen, da wir von Beginn an und | |
unübersehbar als Patrioten auf die Straßen gegangen sind. Wir wurden als | |
„Verräter“ und „Anarchisten“ herabgewürdigt. Jetzt verteidigen wir un… | |
Land auf eine andere Weise und gegen einen anderen Feind. | |
Wie genau geschieht das derzeit? | |
Die Protestbewegung hat zum Beispiel die Infrastruktur zur Unterstützung | |
der Überlebenden des Hamas-Massakers aufgebaut. Ähnlich wie in Ungarn hatte | |
die israelische Regierung Beamte und Personal in den Ministerien durch | |
unfähige, politische Kumpane ersetzt. Im Moment einer Katastrophe weiß dann | |
niemand, was zu tun ist. Wir hingegen haben Zehntausende Engagierte in | |
unseren Whatsapp-Gruppen und können sofort und mühelos mobilisieren. | |
Gibt es noch weitere Beispiele? | |
Nehmen wir die Reservisten. Aus Protest gegen die Justizreform hatten sich | |
sehr viele geweigert, an den regelmäßigen Militärübungen teilzunehmen. Doch | |
nun haben sich die Reservisten eigenständig und auch unabhängig von der | |
offiziellen Einberufung gemeldet. Das ist Israel von seiner besten Seite. | |
Die jüdische Geschichte lehrt uns staatsbürgerliche Verantwortung. | |
Was wird aus der Protestbewegung, sobald der Krieg vorbei ist? | |
Dann werden die Proteste mit einer für die israelische Politik nicht | |
gekannten Heftigkeit wieder aufflammen. Denn die Wut, die so viele von uns | |
gegen Netanjahu persönlich und seine gesamte Regierung aus | |
Rechtsextremisten, religiösen Fundamentalisten und korrupten Politikern | |
empfinden, wurde durch das Versagen, das zu den Anschlägen vom 7. Oktober | |
geführt hat, noch verstärkt. Seit Monaten hatten wir davor gewarnt, dass | |
das alles zu einer Katastrophe führen wird. Nun ist die schlimmste | |
Sicherheitskatastrophe in der Geschichte Israels geschehen. Sie liegt in | |
der Verantwortung der aktuellen Regierung. | |
In Israel leben knapp 20 Prozent Araber. Wie hat dieser Teil der | |
Bevölkerung auf die Terrorangriffe der Hamas reagiert? | |
Größtenteils mit echtem Entsetzen. Umfragen zufolge sind das 80 Prozent. | |
Dazu kommen auch Schamgefühle. Eine kleine Minderheit hingegen reagiert mit | |
Freude und Stolz. Wegen Aufrufen zu weiteren Anschlägen wird gegen eine | |
Reihe von arabischen Israelis derzeit ermittelt. Dazu kommt die Angst und | |
die Unsicherheit, wie die Juden auf ihre arabischen Nachbarn reagieren | |
werden. „Nachbarn“ meine ich an dieser Stelle durchaus wörtlich, weil hier | |
in meinem Haus in Jerusalem zur Hälfte Juden und zur Hälfte Araber wohnen. | |
Aktuell bleiben ja fast alle zu Hause. Doch wenn wir uns im Alltag | |
irgendwann zufällig wiedersehen, dürften unsere Begegnungen zum Teil auch | |
von Misstrauen geprägt sein. Uns werden Fragen durch den Kopf gehen wie: | |
Was denkt der andere jetzt wirklich? Würde mein arabischer Nachbar den | |
Terror vielleicht doch unterstützen? | |
Inwieweit beteiligen sich Araber an der israelischen Heimatfront im | |
aktuellen Krieg? | |
Arabische Israelis sind hier definitiv auch präsent. Ein Beispiel, das die | |
Extreme verdeutlicht: In der arabisch-israelischen Stadt Taibe hat der | |
Besitzer eines Fahrradladens [2][50 Fahrräder für die Überlebenden des | |
Hamas-Massakers gespendet.] Daraufhin haben Fanatiker sein Geschäft | |
niedergebrannt. Es gibt also die totale Identifikation mit Israel, aber | |
auch die Betrachtung dieser Identifikation als Verrat an der | |
palästinensischen Sache. Die meisten arabischen Bürger Israels dürften sich | |
irgendwo dazwischen positionieren. Wegen der Wut der Juden und der Angst | |
der israelischen Araber befinden wir uns aktuell in einer sehr heiklen | |
Lage. Auch weil wir Elemente in der Regierung haben, die Juden gegen | |
arabische Bürger Israels aufhetzen wollen. | |
Sie beziehen sich auf den Minister für Nationale Sicherheit, Itamar | |
Ben-Gvir, der vor wenigen Tagen [3][den Kauf von 10.000 Sturmgewehren für | |
zivile Security-Teams bekannt gab?] | |
Ja. Das ist klassische rechtsextreme Demagogie. Und hat nichts mit | |
nationaler Sicherheit zu tun, sondern führt nur zu Chaos. Ben-Gvir nennt | |
seine Partei „Jüdische Macht“, aber er versteht nicht, wie israelische | |
Macht und Souveränität wirklich funktioniert. Sie basiert auf dem | |
freiwilligen Zusammenschluss der israelischen Bürger in einer Bürgerarmee. | |
Selbst wenn wir vielleicht starke Kritiker der israelischen Politik sind, | |
kommen wir zusammen, weil wir alle an die grundlegende Gerechtigkeit | |
Israels glauben. Ben-Gvir aber ist ein radikaler Spalter und gehört daher | |
mit zur existenziellen Bedrohung Israels. | |
Für ihren New York Times-Bestseller „Letters to My Palestinian Neighbor“ | |
haben Sie zehn längere Briefe an einen imaginären palästinensischen | |
Zeitgenossen geschrieben. Sie haben Palästinenser:innen weltweit dazu | |
ermutigt, darauf zu reagieren, und eine Reihe von Antwortbriefen als Epilog | |
veröffentlicht. | |
Mit meinen Briefen wollte ich meinen Nachbarn die israelische Erfahrung und | |
die jüdische Geschichte erklären, weil sie kaum etwas wissen darüber, wer | |
wir sind und warum wir hier sind. Darüber hinaus wollte ich mit dem Buch | |
eine neue Art von Gespräch über die gegenseitige Legitimität anregen. Wir | |
sind zwei indigene Völker, die sich weigern, das Recht des jeweils anderen | |
auf nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So suchte ich nach Partnern | |
auf der palästinensischen Seite, die sich auf diese Art von Gespräch | |
einlassen würden. | |
Wie geht es mit Ihrem Projekt nun nach der Erfahrung des 7. Oktobers | |
weiter? | |
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Im Moment wäre | |
ich zu so etwas aber nicht in der Lage. Ich bin zu überwältigt und habe | |
viel zu viel Angst. Und ich bin zu wütend. Wenn das hier vorbei ist, hoffe | |
ich, zu meinem Projekt zurückkehren zu können. Ich will weiterhin dazu | |
beizutragen, eine bislang unübliche Konversation zwischen Israelis und | |
Palästinensern in Gang zu bringen: ein Gespräch, in dem wir niemals einer | |
Meinung sein werden, da unsere jeweiligen Narrative unvereinbar sind, wir | |
aber respektvoll miteinander streiten können. Es geht darum, zu einem Punkt | |
zu kommen, an dem jeder von uns sagte: Weißt du, wenn ich an deiner Stelle | |
wäre, würde ich genauso empfinden. Das wäre der Durchbruch. Auf der | |
palästinensischen Seite habe ich Partner in diesem Dialog der | |
Meinungsverschiedenheiten und menschlichen Empathie gefunden, die ich sehr | |
schätze. Im Moment jetzt habe ich aber nicht die emotionale Kraft, all die | |
anderen Gefühle, die ich empfinde, zu überwinden. | |
Anm. d. Red.: Das Gespräch fand 17. Oktober 2023 statt. | |
21 Oct 2023 | |
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[1] /Vor-50-Jahren-begann-Jom-Kippur-Krieg/!5963008 | |
[2] https://www.timesofisrael.com/taibe-bike-shop-torched-after-arab-israeli-ow… | |
[3] https://www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-… | |
## AUTOREN | |
Till Schmidt | |
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