# taz.de -- Proteste in Israel: Orthodox und gegen Bibi | |
> Vor allem in Tel Aviv ist der Protest gegen die rechtsreligiöse Koalition | |
> Israels stark. Doch auch bei Siedlern formiert sich Widerstand. | |
Bild: Orthodoxe Jüdinnen und Juden protestieren in der Siedlung Efrat gegen di… | |
EFRAT taz | Moshe Beigel ist einer der ersten, die zur Demo kommen. Moshe | |
ist nicht zu übersehen, er ist wohl an die zwei Meter groß. Er trägt ein | |
dunkelblaues T-Shirt, auf dem in weißen Lettern steht: „Frei in unserem | |
Land.“ Auf Hebräisch sind das nur zwei Wörter – „chofschi beartzenu“ … | |
Zitat aus der israelischen Nationalhymne, Hatikwa. Wir befinden uns in der | |
Siedlung Efrat, einige Kilometer jenseits der Grünen Linie, die seit dem | |
Waffenstillstandsabkommen von 1949 als international anerkannte Grenze | |
gilt. Knapp 12.000 Einwohner hat die Siedlung, die vor 40 Jahren gegründet | |
wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich einige palästinensische | |
Städte und Dörfer. | |
Es ist Samstagabend, kurz vor neun. Die Sonne ist vor einer guten Stunde | |
untergegangen, der Schabbat ist vorbei. Seit Anfang dieses Jahres wird an | |
vielen Orten in Israel an jedem Samstagabend gegen die Reformpläne der | |
ultrarechten Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu protestiert. Viele | |
im Land befürchten, dass die von der Regierung bereits in Gang gesetzte | |
Justizreform, aber auch viele andere ihrer insgesamt 225 Gesetzesvorhaben, | |
[1][die Gewaltenteilung aufheben und demokratische Rechte stark | |
einschränken] werden. | |
Zwar dominieren die Bilder der Massenproteste in Tel Aviv und Jerusalem die | |
Berichterstattung, aber der Widerstand reißt auch an vielen kleinen Orten | |
nicht ab. In Efrat versammeln sich an diesem Augustabend peu a peu gut 50 | |
Menschen. Sie tragen israelische Flaggen und haben blau-weiße Banner | |
aufgehängt. Auf einem steht: „Links und rechts gegen die Zerstörung.“ | |
Ein Samstag wie jeder andere, und eine kleine Demonstration. Nichts | |
Außergewöhnliches, könnte man meinen. Kämen die Menschen, die hier | |
demonstrieren, nicht aus dem nationalreligiösen Lager. Sie wohnen in der | |
Siedlung und der nahen Umgebung. Auch Moshe Beigel lebt seit 30 Jahren mit | |
seiner Familie hier. Vor 40 Jahren ist er aus Großbritannien nach Israel | |
eingewandert. | |
Efrat gilt als moderate Siedlung. Hier werden die Straßen am Schabbat nicht | |
für den Verkehr geschlossen. Es leben religiöse Menschen aller | |
Schattierungen hier, inzwischen auch einige säkulare Israelis, erzählt | |
Moshe Beigel. „Wir kommen meist sehr gut miteinander klar. Wir hoffen, dass | |
das so bleibt.“ Die Gegend ist schön, das Klima angenehm, die Wohnungen | |
sind billiger. | |
Tel Aviv ist weit weg. Dort schwitzen die Leute jetzt in der schwülen | |
Abendhitze. In Efrat weht ein kühler Wind. Alle Männer auf der kleinen | |
Demonstration tragen Kippa, viele Frauen haben ihr Haar bedeckt. Die | |
meisten bezeichnen sich als orthodox. | |
Auch Moshe Beigel trägt Kippa. Das hat er schon als junger Mann in London | |
getan. Er trug seine Kippa, obwohl er sich mit ihr als Jude outete und im | |
England der 1970er und 1980er Jahre nicht vor antisemitischen Anfeindungen | |
sicher fühlen konnte. Er war immer stolz darauf, die Kippa zu tragen, sagt | |
Moshe. Inzwischen sei er zwar weniger stolz als früher, aber das sei nun | |
mal seine Identität. „Und die lasse ich mir von niemand wegnehmen.“ Moshe | |
Beigel reagiert inzwischen auf seine eigene Kippa wie viele säkulare | |
Menschen in Israel. Sie ist für sie zum politischen Symbol für den | |
Rechtsruck, wenn nicht gar für eine drohende Diktatur durch die Extremisten | |
der Siedlerbewegung geworden, die nun in Netanjahus Regierung den Ton | |
angeben. | |
Als Folge des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 hatte die israelische Armee das | |
Land zwischen der Waffenstillstandslinie von 1949 und dem westlichen Ufer | |
des Jordan besetzt. Die Zeit der Siedlungsbewegung war gekommen: Die Männer | |
vom Gusch Emunim – „Block der Treuen“ – präsentierten sich wie die alt… | |
Siedlerpioniere in ausgemusterten Armeeparkas und groben Hemden, darunter | |
lugten allerdings die weißen Schaufäden hervor, die orthodoxe Juden tragen. | |
Sie stürmten Mitte der 1970er Jahre „wie ekstatische Anhänger einer | |
kultischen Sekte“ ins israelische Bewusstsein, schrieben die Historikerin | |
Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar, die vor 20 Jahren [2][die | |
erste umfassende Studie über die Bewegung vorlegten.] Seitdem habe die | |
Siedlungsbewegung der israelischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt. | |
Die Erlösungsideologie des Gusch Emunim gründete sich auf die Schriften von | |
Zvi Yehuda Kook, dessen Vater Avraham Jitzchak Hacohen Kook Anfang des 20. | |
Jahrhunderts nach Palästina eingewandert war. Kook, der Ältere, erklärte, | |
der künftige Staat Israel werde der heilige „Wohnsitz Gottes“ sein. Theodor | |
Herzl, den Vordenker des modernen Staats Israel, lobte er als Messias aus | |
dem Hause Joseph, weil Herzl die Rückkehr nach Zion eingeleitet hatte. | |
Der säkulare Zionismus stimme mit dem göttlichen Plan überein, erklärte | |
Kook. Kook war ein anerkannter Schriftgelehrter, der den künftigen Staat | |
Israel mit Blick auf seine religiöse Bedeutung interpretierte. Sein Sohn | |
Zvi Yehuda Kook wurde jedoch zur führenden spirituellen Kraft einer Gruppe | |
nationalreligiöser junger Leute, die den inzwischen gegründeten säkularen | |
Staat verändern wollten, „der nicht zulässt, dass die Tora Israels Gestalt | |
bestimmt“. Mit den Mitteln direkter Aktion und politischer Einflussnahme | |
wollten sie selbst am göttlichen Erlösungsplan mitwirken. Sie würden das | |
ganze Land besiedeln. | |
[3][Unterstützt wurde der Gusch Emunim dabei von allen israelischen | |
Regierungen], ob links oder rechts. Der Block war keine Partei, sondern | |
eine Erlösungsbewegung, die ständig neue Siedlungen errichtete und vor | |
Hetzkampagnen gegen Politiker nicht zurückschreckte, wenn diese weniger | |
messianischen Eifer an den Tag legten als sie selbst. Der Bewegung gelang | |
es im Lauf der Jahrzehnte, Abermillionen Schekel in die Infrastruktur von | |
Siedlungen zu lenken – und die Nationalreligöse Partei in eine immer | |
extremere Richtung zu drehen, bis diese sich auflöste. Heute sitzen die | |
„Soldaten des Messias“ in der Regierung. | |
Tsuf Peles ist einer von denen, die mit anderen Augen auf den | |
nationalreligiösen Teil der Bevölkerung blicken als früher. Tsuf Peles | |
wohnt in Tel Aviv. Er lebt säkular, denkt liberal und arbeitet in der | |
Hightech-Branche. Er ist ein typischer Vertreter der Tel Aviver | |
Protestbewegung. Als er gefragt wurde, ob er einen deutschen Journalisten | |
von Tel Aviv nach Efrat bringen könne, meldete er sich bei mir. Orthodoxe | |
Juden aus einer Siedlung, die gegen die Regierung demonstrieren und für die | |
Demokratie kämpfen? Das wollte er sich auch selbst gern anschauen. | |
Wenn er heute einen Mann mit Kippa sähe, erzählt mir Tsuf im Auto auf dem | |
Weg nach Efrat, frage er sich unwillkürlich, ob das auch einer dieser | |
Extremisten sei, die sich gegen die israelische Demokratie verschworen | |
haben. Dass das ein Klischee ist, weiß Tsuf Peles. Der Gedanke sei ihm | |
unangenehm, aber er lasse sich nicht mehr verscheuchen. Der Graben zwischen | |
Säkularen und Gläubigen ist tiefer geworden – und eben deswegen will Tsuf | |
mich nach Efrat fahren. Er zeigt auf den Verkehr vor uns: „Schau, wir | |
fahren hier gemeinsam mit Palästinensern, das ist normal und es sollte auch | |
normal sein, wir leben hier zusammen.“ | |
Moshe Beigel aus Efrat weiß inzwischen, wie es ist, mit den Augen von | |
Leuten angeschaut zu werden, die vorbehaltlos hinter der Regierung stehen – | |
obwohl er selbst aus dem nationalreligiösen Lager kommt: „Als ich kürzlich | |
von einer Demonstration in Jerusalem kam – ich hatte eine israelische Fahne | |
dabei – rief mir jemand aus dem Auto zu: ‚Geh doch zurück nach Berlin!‘�… | |
Die Botschaft war unmissverständlich: Leute wie Moshe, die gegen die | |
Regierung demonstrieren, hätten in Israel nichts zu suchen. Sie seien | |
bestens in der Diaspora, in Berlin aufgehoben, wohin es viele Israelis | |
wegen der schwierigen Wirtschaftslage, [4][aber auch wegen der Dominanz | |
rechter Politik in ihrer Heimat gezogen hat.] | |
Das traf Moshe Beigel ins Herz. „Ich bin ein Kind von | |
Holocaustüberlebenden. Mein Vater stammt aus Hannover, meine Mutter aus | |
Moers. Eines meiner Kindheitstraumata ist, dass uns in England Leute anonym | |
anriefen und sagten: Geht zurück nach Deutschland!“ So etwas nun auch hier, | |
in Israel, zu hören, sei sehr traurig, sagt Moshe. „Aber wir werden es | |
schaffen, wir haben keine andere Wahl.“ | |
Sie seien zwar nur ungefähr hundert, die in Efrat gegen die Regierung und | |
für Demokratie demonstrieren. Es falle vielen nicht leicht, auf eine | |
Demonstration zu gehen, meint Moshe. Dass das versprengte Häuflein am | |
Verkehrskreisel aber nicht allein auf weiter Flur ist, zeigt sich, wenn | |
Autos vorbei kommen und die Fahrerinnen und Fahrer zustimmend hupen. | |
Allerdings haben bei der letzten Wahl 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler | |
in Efrat für die Religiösen Zionisten gestimmt, auf deren Liste sich auch | |
die Splitterparteien Otzma Yehudit und Noam befanden. Sie gaben ihre | |
Stimmen also dem nationalreligiösen Extremismus. Die Partei des Religiösen | |
Zionismus wurde vom mythischen „ersten Siedler“ Hanan Porat auf den | |
Trümmern der einst als Kraft der linken Mitte geltenden Nationalreligiösen | |
Partei gegründet. | |
Der derzeitige Vorsitzende der Religiösen Zionisten, Bezalel Smotrich, ist | |
Finanzminster der Regierungskoalition. Er ist bekennender Homophober und | |
Ultranationalist. Nach einem Mordanschlag auf zwei junge Siedler in Huwara | |
und einem darauffolgenden Pogrom radikaler Siedler hatte Smotrich erklärt, | |
der Staat solle die palästinensische Kleinstadt dem Erdboden gleichmachen. | |
Später bat er dafür um Entschuldigung. | |
Der Vorsitzende der Noam, der zweiten Partei auf der Liste der Extremisten, | |
ist ein Rabbiner. Er hat sich vor allem mit seiner Feindseligkeit gegenüber | |
der LGBTIQ-Gemeinde einen Namen gemacht. [5][Itamar Ben-Gvir] von Otzma | |
Jehudit, der dritten Partei im Bunde der religiösen Ultranationalisten, ist | |
ein Schüler von Rabbi Meir Kahane, der in den 1980er Jahren vor leerem | |
Plenum sprechen musste, wenn er in der Knesset eine Rede hielt. Trat er ans | |
Pult, verließen bis auf den Parlamentsvorsitzenden und die Stenotypistin | |
alle Mitglieder der Knesset den Saal. Die Brandmauer gegen Extremisten | |
stand damals noch. Selbst das nationalreligiöse Lager wollte mit Kahane | |
nichts zu tun haben. Heute ist sein Schüler Itamar Ben-Gvir als Minister | |
für die Sicherheit des Landes und damit auch für die Polizei | |
verantwortlich. | |
In einer Talkshow sagte Ben-Gvir jüngst einem arabisch-israelischen | |
Journalisten, der in der Runde saß: „Sorry, Mohammad, mein Recht, das Recht | |
meiner Frau und meiner Kinder, sich frei in Judäa und Samaria zu bewegen, | |
ist wichtiger als die Bewegungsfreiheit von Arabern. Das Recht auf Leben | |
ist wichtiger als das Recht, sich ungehindert bewegen zu können.“ | |
Judäa und Samaria sind die biblischen Namen für die von Israel | |
kontrollierten Gebiete westlich des Jordans. Moderate Kritiker Ben-Gvirs | |
warfen dem Minister daraufhin Rassismus vor. Linke kommentierten trocken, | |
Ben-Gvir beschreibe doch nur, wie es auf der Westbank zugehe. Das Problem | |
sei nicht das Bekenntnis des Ministers zu jüdischer Überlegenheit, sondern | |
die Tatsache, dass sie seit Jahrzehnten von Staat und Armee gegenüber den | |
Palästinensern durchgesetzt werde. | |
Ich frage Moshe Beigel, warum er heute Abend hier ist. „Wir machen uns | |
Sorgen über die demokratische Zukunft Israels“, antwortet er. Sie wollten | |
Israel als moderne, offene Gesellschaft erhalten. Inzwischen ist er | |
optimistisch, dass die Protestbewegung Erfolg haben wird. „Die Regierung | |
beginnt langsam zu verstehen, dass die Mehrheit der Menschen in Israel | |
gegen eine Diktatur ist. Religiösen Fanatikern wird es nicht gelingen, eine | |
säkulare jüdische Gesellschaft zu ruinieren.“ | |
Politisch stehe er rechts, sagt Moshe – eben deswegen sei er hier. Der | |
Likud, die Partei des Ministerpräsidenten, der er früher selbst angehörte, | |
gehe in die Irre. „Vor Kurzem wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben als | |
Linker bezeichnet – von einem meiner Nachbarn. Dabei bin ich alles andere | |
als ein Linker.“ Moshe Beigel ist Zionist. Er betrachtet die Gebiete | |
westlich des Jordans als einen Ort, an dem Juden leben können sollten. | |
Efrat ist nur zwölf Minuten von Jerusalem entfernt. | |
Er könne den Tempelberg von seinem Haus aus sehen. „Das ist kein fremdes | |
Land hier,“ sagt er, und ergänzt: „Kein Araber wurde von diesem Stück Land | |
hier vertrieben. Wir leben so friedlich wie möglich mit unseren arabischen | |
Nachbarn zusammen, aber wir müssen realistisch sein.“ Wie stellt er sich | |
die Zukunft des Landes vor? „Alle bleiben in ihren Häusern, keiner muss | |
wegziehen. Es soll einen jüdischen Staat geben und ein wie auch immer | |
geartetes Gemeinwesen für die Araber, über das noch entschieden werden | |
muss.“ | |
Inzwischen ist die Versammlung am Verkehrskreisel in Efrat größer geworden, | |
und Avidan Freedman, Anzughose, blaues Hemd, greift zum Mikrofon. Die Leute | |
bilden einen Halbkreis. Freedman ist einer der Organisatoren des Protests | |
in Efrat. Der ausgebildete Rabbiner arbeitet als Lehrer in einer Schule für | |
Jungen in Jerusalem. Dort unterrichtet er den Talmud, jüdische Geschichte | |
und Recht. Dass er sich politisch einmischt, ist für ihn nichts Neues. Vor | |
einigen Jahren hat er eine Organisation gegründet, die sich gegen | |
israelische Waffenexporte an Diktaturen engagiert. | |
Freedman zitiert aus dem Abschnitt der Tora, der an diesem Schabbat gelesen | |
worden ist. Es trifft sich, dass dieser Abschnitt vom Recht handelt, dem | |
sich auch die Könige zu beugen haben. Die berühmteste Stelle lautet: | |
„Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben | |
hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir | |
gibt.“ | |
Auf Freedman folgen weitere Rednerinnen und Redner. Ein Rabbiner zitiert | |
aus den Schriften von Kook, dem Älteren. Auch ein Ex-General, der einige | |
Jahre das Büro von Netanjahu geleitet hat und nun gegen dessen neue | |
Regierung kämpft, hat die Einladung nach Efrat angenommen. Zwischendurch | |
wird Musik gespielt. Am Ende singen alle die Nationalhymne. | |
Vorher aber hat sich noch Tsuf Peles gemeldet und gefragt, ob er auch ein | |
paar Worte sprechen dürfe. In Tel Aviv zu demonstrieren sei keine Kunst, | |
sagt er, hier aber schon. Dafür zolle er den Demonstranten von Efrat | |
Respekt. Es sei in der Tat nicht leicht, erzählt nach dem Ende der Demo | |
eine Frau, die schon lange in Efrat lebt. Weder mit ihren Nachbarn könne | |
sie über die Lage im Land sprechen, noch mit ihrer Familie. Alle stünden | |
vorbehaltlos hinter der Regierung. Das schmerze sie, weil es hier nicht um | |
Politik gehe, sondern um grundlegende Werte, über die sich doch alle einig | |
sein sollten. | |
## Aus den Augen, aus dem Sinn | |
Andere Gläubige haben es leichter. In einem Interview, das ich später mit | |
Shira Ben Sasson Furstenberg via Zoom führe, erklärt mir die Aktivistin, | |
sie lebe im Süden Jerusalems in einer Welt, in der sich Religiösität und | |
Linkssein nicht ausschließen. Shira Ben Sasson Furstenberg ist orthodox. | |
Sie bedeckt ihr Haar, wenn sie das Haus verlässt. Aber sie geht in eine | |
egalitäre Synagoge, in der auch Frauen aus der Tora lesen. Sie kommt wie | |
die Siedler in Efrat aus dem nationalreligiösen Lager. Ihr Großvater Josef | |
Burg, der aus Deutschland stammte, war Vorsitzender der Nationalreligiösen | |
Partei und Minister in verschiedenen israelischen Regierungen. | |
Shira Ben Sasson Furstenberg ist stellvertretende Direktorin des [6][New | |
Israel Fund], einer Organisation, die sich für eine gerechte und inklusive | |
Gesellschaft einsetzt, und sie ist Mitglied der kurz nach den Wahlen | |
gegründeten Gruppe HaSmol HaEmuni – die Linke der Gläubigen. „Wir haben d… | |
Namen gewählt, weil in unserer Gruppe das gesamte traditionelle religiöse | |
Spektrum vertreten ist, von orthodoxen bis ultra-orthodoxen Gläubigen.“ Als | |
Kind habe sie in der Jugendbewegung der Nationalreligiösen Partei gelernt, | |
sich ein Dreieck vorzustellen, erzählt sie. Dessen drei Ecken bestünden aus | |
dem Volk, dem Land und der Tora Israels, und es sei die Aufgabe aller, | |
diese drei Punkte in ihrem täglichen Tun zu verknüpfen. Heute stehe im | |
nationalreligiösen Milieu das Land über allem, kritisiert sie. | |
Für die erste Konferenz, die HaSmol HaEmuni in Jerusalem organisierte, | |
meldeten sich knapp 1.000 Menschen an, 700 kamen. Dann begann die Gruppe, | |
auch zu Demonstrationen zu gehen. Als Zehntausende im Juli nach Jerusalem | |
marschierten, [7][um gegen die Verabschiedung des ersten Teils der | |
Justizreform in der Knesset zu demonstrieren], brachte Shira Ben Sasson | |
Furstenberg die Torarolle ihrer Familie zur Zeltstadt der Protestierenden | |
in der Nähe des Parlaments. Dort folgten an die hundert Menschen dem Ruf | |
von HaSmol HaEmuni zum Gebet. | |
Die Symbolwirkung der Teilnahme gläubiger Juden an den Protesten ist kaum | |
zu unterschätzen. Denn einer der Gründe der derzeitigen Spaltung des Landes | |
liegt in der Unterscheidung zwischen „Juden“ und „Israelis“. Einer der | |
amerikanischen Spindoktoren Benjamin Netanjahus erfand diesen Unterschied, | |
um aus dem Antagonismus politisches Kapital zu schlagen: Die Unterstützer | |
Netanjahus sollten das Gefühl haben, sie verträten das jüdische Erbe, | |
während alle anderen verrückte Linke seien, die ihr Judentum angeblich | |
vergessen hätten. | |
Nun aber gibt es auch orthodoxe Juden aus dem nationalreligiösen Lager, die | |
gegen die Regierung und ihre Politik demonstrieren. Das dürfte den | |
Thinktanks, die Netanjahu mit Strategien für den Kulturkampf füttern, | |
Kopfzerbrechen bereiten. Mit jeder orthodoxen Jüdin, mit jedem gläubigen | |
Juden, die gegen die Regierung auf die Straße gehen, bröckelt das | |
spalterische Narrativ der Regierung. | |
Ein anderes Ergebnis ihrer Politik dürfte der Regierung noch weniger | |
gefallen. Die Israelis haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, die | |
Besatzung zu verdrängen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Zuge der | |
Demokratiebewegung sind jedoch jene Stimmen lauter geworden, die sagen, es | |
habe keinen Sinn, über Demokratie zu sprechen, wenn über die Besatzung | |
geschwiegen wird. Die Parole „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“ war | |
anfangs nur aus dem linken „Block gegen die Besatzung“ zu hören. Inzwischen | |
wird auch auf der großen Protestbühne in Tel Aviv und im Fernsehen über die | |
Besatzung und ihre Folgen für die Demokratie gesprochen. | |
Am Verkehrskreisel in Efrat ist es ruhig geworden. Die meisten sind auf den | |
Weg nach Hause. Die Kinder müssen ins Bett, morgen ist ein Arbeitstag. | |
Avidan Freedman hat Flaggen und Plakate eingesammelt und die Tonanlage | |
wieder abgebaut. Von Tsuf Peles, der auch hier sein Protest-Shirt aus Tel | |
Aviv trägt, will er noch wissen, wo man am besten Shirts bedrucken kann. | |
Bevor Avidan aufbricht, fasst er den Tenor der Versammlung zusammen. | |
Historisch habe sich der religiöse Zionismus als Brücke zwischen religiösen | |
und nationalen Ideen, zwischen dem Universellen und dem Partikularen | |
begriffen, erklärt er. | |
„Ich sehe es so: Israel kann nicht als jüdischer Staat überleben ohne eine | |
starke Verbindung zum Judentum. Israel kann aber auch nicht als jüdischer | |
Staat überleben, ohne sich zur Demokratie und zu den Menschenrechten zu | |
bekennen.“ Das motiviere ihn und die anderen, hier, in einer Siedlung auf | |
der Westbank, zu demonstrieren. Sie seien religiöse Juden, die gegen den | |
Strom schwimmen. „Die Leute, die heute hier waren, definieren sich als | |
religiös und rechts,“ sagt er. „Aber aus diesen Werten ergibt sich die | |
Einstellung, dass die Regierung nicht nur dem Zusammenhalt der israelischen | |
Gesellschaft sehr schweren Schaden zufügt, sondern auch dem Judentum | |
selbst.“ | |
Dann fährt auch Avidan Freedman nach Hause. Am nächsten Samstagabend wird | |
er wohl wieder hier sein. | |
17 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Klage-gegen-Israels-Justizreform/!5956702 | |
[2] /!246366/%20%3Chttps:/taz.de/!246366/ | |
[3] /30-Jahre-Osloer-Abkommen/!5956646 | |
[4] /Israelis-in-Berlin-gegen-Netanjahu/!5922297 | |
[5] /Anfuehrer-der-Liste-Religioeser-Zionismus/!5889003 | |
[6] https://www.nif-deutschland.de/ | |
[7] /Justizreform-in-Israel/!5950633 | |
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Ulrich Gutmair | |
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