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# taz.de -- Dokumentarfilm „No Other Land“: Ein anderes Land
> Der Dokumentarfilm „No Other Land“ zeigt den Kampf von Beduinen gegen
> einen Truppenübungsplatz der israelischen Armee. Ihm sollen ihre Häuser
> weichen.
Bild: Es sind karge Hügel am Rand der judäischen Wüste, in denen sich der Ka…
Ein junger Mann fährt mit dem Auto durch die Nacht. Der junge Mann hört
arabische Sprachnachrichten ab, die sich auf seinem Telefon angesammelt
haben. „Leute, die Armee umzingelt das Dorf.“ – „Basel, wo bist du? Komm
schnell heim!“
Im weiteren Verlauf von „No Other Land“ werden wir noch oft das Gesicht von
Basel Adra zu sehen bekommen. Er ist der Protagonist dieses
Dokumentarfilms, aber weitaus mehr als das. Er ist zugleich aktivistischer
Filmemacher, der mit seiner Videokamera dokumentiert, wie Bulldozer unter
dem Schutz der israelischen Verteidigungskräfte die Häuser von Nachbarn
abreißen. Last but not least ist er einer von vier Regisseuren dieses
Films, in dem er selbst die Hauptrolle spielt.
Häufig gesellt sich das Gesicht seines jüdischen Co-Regisseurs Yuval
Abraham dazu. Auch er ist Aktivist, der für israelische Medien
dokumentiert, was sich in Masafer Yatta abspielt.
## Der Film ist für die Oscars nominiert, hat in den USA aber keinen
Vertrieb
„No Other Land“ gewann den Dokumentarfilmpreis der Berlinale 2024. Der
Auftritt von Basel Adra und Yuval Abraham wurde von den einen bejubelt, von
anderen harsch kritisiert, weil Abraham in seiner Dankesrede von
„Apartheid“ gesprochen hatte und Adra behauptete, in Gaza würden Menschen
„abgeschlachtet“. Der gegen den Film vorgebrachte Vorwurf der Einseitigkeit
war noch harmlos, Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner kritisierte
die Reden der Regisseure als „untragbare Relativierung“ und schrieb,
Antisemitismus habe in Berlin keinen Platz.
Nun läuft der Film in deutschen Kinos, wurde inzwischen für die Oscars
nominiert, hat in den USA dagegen aber immer noch keinen Vertrieb – so viel
zum „McCarthyismus“, den einige amerikanische Expats in Deutschland zu
erkennen meinen.
Ist „No Other Land“ einseitig? Ja, aber das liegt in der Natur der Sache,
denn der Film blickt aus der Perspektive der Bewohner von Masafer Yatta auf
einen Konflikt um die Ortschaften, in denen sie leben, die sie nun aber
verlassen sollen.
## Seit über zwanzig Jahren werden Häuser zwangsgeräumt
Masafer Yatta wird eine Ansammlung kleiner Dörfer südlich von Hebron im
während des Sechstagekriegs von Israel besetzten Westjordanland genannt. Um
die tausend Beduinen wohnen in diesem Gebiet, das 1977 als
Truppenübungsgelände für das israelische Militär ausgewiesen wurde. Seit
über zwanzig Jahren werden daher Häuser zwangsgeräumt und mit Bulldozern
zerstört. Weil sich die Bewohner oft weigern, ihre Häuser zu verlassen,
demolieren die Maschinen unter dem Schutz der Armee die Häuser mitsamt dem
Mobiliar.
„Sie zerstören uns langsam, jede Woche ein Haus“, heißt es im Film einmal.
In der Tat ist es ein zäher Kampf. Ein Bulldozer zerstört ein Haus, die
Leute bauen es wieder auf. Um die Gegend wirklich unbewohnbar zu machen,
zerstören die Abgesandten der Regierung schließlich Wasserleitungen und
versiegeln eine Wasserquelle mit Beton. Als sich einer der Männer mit
Händen und Füßen dagegen wehrt, dass Soldaten einen Stromgenerator
konfiszieren, schießt ein Soldat auf ihn. Er wird sich nie wieder davon
erholen.
Die Arbeiten an „No Other Land“ begannen im Jahr 2018 und endeten im
Oktober 2023. Während der Dreharbeiten verkündete das Oberste Gericht
Israels nach einem 22 Jahre dauernden Prozess sein Urteil. Da es in der
Region früher keine dauerhaften Siedlungen gegeben habe und die meisten
Bewohner ohnehin anderswo gemeldet seien, dürfe in dieser Gegend nicht
gebaut werden, die Häuser dürften abgerissen werden.
## Das Problem, das sich in Masafer Yatta exemplarisch zeigt, ist ein
politisches
Die Bewohner legten Dokumente vor, die belegen sollten, dass ihre Vorfahren
bereits in den 1830ern in diese Gegend gezogen waren. In der Tat gab es
damals eine Einwanderungswelle aus Ägypten in die Levante, die damals zum
Osmanischen Reich gehörte. Auch viele nichtjüdische Bewohner Palästinas
sind also erst in jüngerer Zeit eingewandert.
Diese und andere Dokumente überzeugten das Gericht nicht. In der
Filmbesprechung der FAZ war dazu zu lesen, es gebe in diesem Konflikt
„keine neutrale Instanz, die schlichtet, sondern es gelten die Regeln, die
aus der Besatzung entstanden sind“. Diesen Schluss kann man durchaus
bezweifeln. Das Oberste Gericht Israels ist, auch wenn es zur Legalisierung
der Besatzung beigetragen hat, eine vergleichweise neutrale Instanz,
[1][die durch eine Justizreform der gegenwärtigen ultrarechten
israelischen Regierung auf Linie gebracht werden sollte, was wiederum die
massive Protestwelle im Jahr 2023 ausgelöst hat].
Das Gericht hat immer wieder zugunsten von palästinensischen Klägern
entschieden, etwa im Fall der Bewohner des Dorfs Bil’in, die wegen des Baus
des Zauns, der entlang der Grünen Linie von Israel errichtet wurde, von
ihren Olivenhainen abgeschnitten worden waren. Die Grenzanlage wurde nach
dem Gerichtsurteil nach Westen verschoben.
Das Problem, das sich in Masafer Yatta exemplarisch zeigt, ist kein
juristisches, sondern ein politisches. Es ist Resultat des Siegeszugs der
messianischen jüdischen Siedlerbewegung.
## „No Other Land“ ist kein propagandistischer Film
Ist „No Other Land“ mit seinen aufwühlenden Bildern ein propagandistischer
Film? Nein. Er ist auch nicht antijüdisch oder gar antisemitisch. Er zeigt,
was geschieht, und damit auch die Konflikte zwischen dem jüdischen
Filmemacher Yuval und den Freunden und Familienmitgliedern seines Freundes
Basel. Einmal wird ihm gesagt: „Das könnte einer deiner Brüder oder Freunde
gewesen sein, der ein Haus zerstört hat. Wie soll das weitergehen?“
Es geht weiter, weil die Beduinen vor zwanzig Jahren beschlossen haben,
auch mit Juden zu arbeiten, wenn die bereit sind, ihnen zu helfen, und weil
es nicht darum geht, dass sie Juden sind, sondern darum, wie sich ihr Staat
verhält. Um dies deutlich zu machen, ist in den englischen Untertiteln
immer von „Israelis“ zu lesen, wenn die Leute „Juden“ sagen.
## Ariel Scharon verfolgte eine Politik der Besiedlung des Westjordanlands
Wenn man „No Other Land“ etwas vorwerfen kann, dann ist es die mangelnde
politische Analyse. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Erst im
Abspann erklären die Filmemacher*innen, ein geheimes staatliches
Dokument zeige, dass das Übungsgelände geschaffen wurde, um arabische
Dörfer an der Expansion zu hindern.
Das Dokument, auf das hier verwiesen wird, ist nicht geheim. Es ist das
Protokoll einer Sitzung des Ministerialausschusses für Siedlungsbelange im
Jahr 1981, in deren Verlauf Ariel Scharon sagte, die Ausweisung des Gebiets
von Masafer Yatta diene dem oben genannten Zweck. Um die Gegend weiterhin
unter der eigenen Kontrolle zu halten, werde man dem Truppenübungsplatz
weitere Flächen zuschlagen. Scharon war seit 1977 Vorsitzender des
Ausschusses und Landwirtschaftsminister der ersten vom Likud geführten
Regierung. Er verfolgte eine Politik der Besiedlung des Westjordanlands,
die einen zukünftigen, territorial geschlossenen palästinensischen Staat
verhindern sollte. Scharon gilt zu Recht als „Vater der Siedlungen“.
In ihrer im Jahr 2004 erschienenen Studie „Die Herren des Landes“
beschrieben die Historikerin Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar
die fortwährende Unterstützung, die das Siedlungsprojekt von allen
israelischen Regierungen genossen hat, die den Siedlungen eine
Infrastruktur aus Straßen und Energieversorgung bereitgestellt haben. Sie
analysierten die politischen Strategien, mit denen die Siedlerbewegung
Politik und Öffentlichkeit manipuliert hat, und verwiesen auf die
verheerenden Folgen, die der laxe Umgang mit den ständigen Gesetzesbrüchen
der Siedler für das Rechtsbewusstsein der gesamten israelischen
Gesellschaft hat.
## Der frühere Verteidigungsminister Moshe Ya’alon spricht von „ethnischen
Säuberungen“ in Gaza
Wie recht Eldar und Zertal mit ihrer Warnung hatten, dass der Messianismus
der Siedler die Zukunft Israels gefährden könnte, zeigt sich heute. Im
Schatten des Gazakriegs haben gewalttätige Übergriffe von Siedlern auf
Palästinenser stark zugenommen. Laut der israelischen Tageszeitung Ha’aretz
herrscht Streit zwischen dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet und den
israelischen Polizeibehörden im Westjordanland, weil diese sich nicht mehr
kooperativ bei der Überwachung und Verhaftung von jüdischen
Terrorverdächtigen zeigten.
In Gestalt von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister
Bezalel Smotrich sitzen nun zwei der radikalsten Vertreter der
Siedlerbewegung am Kabinettstisch. Smotrich sagte im November laut
Ha’aretz, während der ersten Amtszeit Donald Trumps sei man nur einen
Schritt davon entfernt gewesen, die Souveränität über die Siedlungen in
Judäa und Samaria, also im Westjordanland, auszuüben. Jetzt sei es an der
Zeit, dies zu tun. Die „neuen Nazis“ müssten einen Preis bezahlen, indem
ihnen Land weggenommen werde. Das gelte auch für Gaza.
Wenig später erregte eine Aussage des früheren Verteidigungsministers und
Armeechefs Moshe „Bogi“ Ya’alon das Land. Ya’alon ist kein Linker, er w…
Mitglied des rechten Likud und galt als Falke. Er sprach von „ethnischen
Säuberungen“ in Gaza. Zivilisten würden aus ihren Häusern vertrieben und
ihre Häuser zerstört. Dafür machte er nicht die Streitkräfte
verantwortlich, sondern die Regierung, insbesondere die Minister Ben-Gvir
und Smotrich.
„No Other Land“ endet mit einer von Basel Adra gefilmten Szene vom 13.
Oktober 2023. Ein mit einem Gewehr bewaffneter Siedler schießt einem Cousin
Adras in den Bauch.
22 Dec 2024
## LINKS
[1] /Proteste-in-Israel/!5957871
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Siedlungen
Gaza
Westjordanland
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Film
Dokumentarfilm
Beduinen
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Justizreform
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